Es gelten die Buchstaben des Gesetzes

Politiker fordern, dass die Flüchtlinge unsere Werte übernehmen – das  ist weltfremd und nicht praktikabel.

15.09.04-flucht-budapest

Was sind die Grundwerte des Westens?

In diesen Tagen der Unsicherheit ist sehr viel von „unseren Werten“ die Rede. Politiker und Kommentatoren fordern uns auf, die Grundwerte des Westens gegen die Terroristen des Islamischen Staates zu verteidigen. Oder wir verlangen von den Flüchtlingen, die bei uns Schutz suchen, nicht nur unsere Sprache zu lernen, sondern auch unsere Werte anzunehmen. „Wer sich mit der deutschen Wertekultur nicht anfreunden kann, der kann auf Dauer nicht hier bleiben“, hat es der CDU-Fraktionschef Guido Wolf in den letzten Wochen in seinen Reden immer wieder markig formuliert.

Jeder kann  tun, was er will – oder?

Doch was steckt hinter dieser Forderung? Oder ist dieser Satz vielleicht nur ein Reflex angesichts der unerklärlichen Monstrosität des Terrors? Ein Reflex, der eine Selbstgewissheit vortäuscht, wo in unserer pluralistischen Gesellschaft im Grunde gar keine ist, denn was sind  „unsere Werte“? Diese nur scheinbar einfache Frage, in die Runde geworfen, provoziert in der Regel einen vielstimmigen Kanon an Meinungen und Ansichten. Deutlich wird: wir leben in einer Welt des Wertepluralismus und -relativismus. Längst kann sich jeder seinen eigenen Vorstellungskosmos zurechtzimmern – wir genießen in diesem Sinne die Errungenschaften der Aufklärung.

Selbst die zehn Gebote – über Jahrhunderte eine Art Leuchtturm der Orientierung – taugen in unserer modernen, von Gott eher abgewandten Zeit nicht einmal mehr im Ansatz als gesellschaftlicher Wertekanon. In jeder Vorabendserie geht es um Diebstahl, Lügen, Intrigen und Ehebruch. Allenfalls das fünfte Gebot – Du sollst nicht töten – scheint seine Allgemeingültigkeit noch nicht verloren zu haben. Aber auch hier gibt es Zweifel. Selbst im demokratischen Europa sind wir uns nicht wirklich einig darüber, welchen Wert ein Leben hat und wann es von Menschenhand beendet werden darf. In Ungarn wird laut über die Einführung der Todesstrafe nachgedacht.

Angst nach den Anschlägen

Die Anschläge von Paris und die seit Wochen um sich greifende Angst vor neuen Terrorattacken haben uns in Europa allerdings einige grundsätzliche, jedem ans Herz gewachsene Werte ins Gedächtnis gerufen, die wir  – siebzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges und 25 Jahre nach dem Fall der Mauer  –  vielleicht als allzu selbstverständlich hingenommen haben. Die Morde an 129 Menschen haben uns daran erinnert, dass wir ein selbstbestimmtes Leben in  Frieden und Sicherheit führen wollen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die Schlagworte der Französischen Revolution, schienen in unserer Zeit – mit einigen Abstrichen, etwa bei der Gleichheit von Mann und Frau – durchaus verwirklicht.

Aber müssen wir diese Werte den Flüchtlingen aus Syrien tatsächlich erst mühsam beibringen? Sind diese Menschen nicht aus ihrer Heimat geflüchtet, weil ihr Leben, ihre Freiheit und ihre Sicherheit  gefährdet waren? Vielleicht hilft es weiter, die ganze Diskussion etwas tiefer zu hängen, also nicht in  Überhöhung von irgendwelchen, nur schwer zu definierenden Werten zu reden, die wir in Deutschland alle zu teilen haben – und unter denen am Ende jeder etwas anderes versteht. Zudem ist es eine andere, zentrale Folge des aufklärerischen Relativismus, dass wir Menschen mit anderen Wertvorstellungen tolerieren können. Das erlaubt es uns, den Mitmenschen eine gewisse Gelassenheit entgegenzubringen. Weil aber diese unklaren Wertvorstellungen nicht zur Regelung des alltäglichen Zusammenlebens geeignet sind, haben wir uns auf eine andere, säkulare Kategorie verständigt: das Recht.

Von Muslimen und Moralisten

An diesem Punkt stellt sich die Ausgangfrage in einem neuen Licht. Es ist unnötig, uns in philosophische Höhen zu schrauben und von den hier ankommenden Flüchtlingen zu verlangen, sich an unsere Werte zu halten. Reicht nicht das in Deutschland geltende, sehr genau ausformulierte, für jeden nachzulesende Gesetz? Darin steht etwa: wir leben in einem von der Kirche abgetrennten Rechtsstaat, Männer und Frauen sind gleichberechtigt und Homosexualität ist eine anerkannte Lebensform. Wir können von den muslimischen Flüchtlingen nicht verlangen, dass sie sich von ihren Werten einfach verabschieden. Dass sie etwa den hohen Stellenwert von Familie zu Gunsten unserer Patchwork-Vorstellung fallen lassen. Oder dass sie klaglos unsere eher libertären Moralvorstellungen übernehmen. Sittenwächter haben in einer freien Gesellschaft nichts verloren.

Verlangen können wir aber, dass die Hilfesuchenden sich an das hier geltende Recht und die Gesetze halten. Tun sie das nicht, haben sie mit den entsprechenden Konsequenzen zu rechnen. Darüber zu urteilen ist dann aber Sache unabhängiger Gerichte und nicht der Moralpolizei.

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