Die Türkei ist vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen Verletzung der Meinungsfreiheit verurteilt worden. Besinnt sich Europa nun doch plötzlich auf die Grundrechte, die in diesen Tagen von Ankara am laufenden Band mit Füßen getreten werden.

„Zaman“ steht nun unter Aufsicht des Staates
Schlag gegen die Pressefreiheit
Zuerst wurden der Chefredakteur der regierungskritischen Zeitung „Cumhuriyet“, Can Dündar, und Hauptstadtbüroleiter Erdem Gül wegen „Spionage“ ins Gefängnis geworfen – ihnen droht lebenslange Haft. Dann wurde die größte türkische Oppositionszeitung „Zaman“ unter staatliche Kontrolle gebracht und schließlich ereilte die mit dem Blatt eng verbundene Nachrichtenagentur Cihan dasselbe Schicksal.
Doch die Hoffnung, dass sich Europa doch noch zu einer klaren Haltung in Sachen Pressefreiheit durchringen kann, muss enttäuscht werden. Der Gerichtshof urteilte nicht über die aktuellen Skandale, sondern über einen Fall aus dem Jahr 2003. Damals hatten zwei junge Leute regierungskritische Flugblätter verteilt und waren deswegen bestraft worden, wie das Straßburger Gericht mitteilte. (Az. 14895/05)
Europa schweigt zum Vorgehen Ankaras
Fakt ist: seit die EU die Türkei als Partner in der Flüchtlingskrise umwirbt, ist Kritik an der islamisch-konservativen Führung in Ankara so gut wie verstummt.
Was die Treuhandverwaltung für Medien in der Türkei heißt, davon können die Redakteure der einst regierungskritischen Zeitung „Bugün“ ein trauriges Lied singen – sie wurde vor der Parlamentswahl im vergangenen November unter staatliche Aufsicht gestellt. Ein heimlich mitgeschnittenes Video einer Redaktionssitzung zeigte, wie der Treuhänder ankündigt, er werde künftig die redaktionelle Ausrichtung vorgeben. Die erste „Bugün“-Ausgabe danach erscheint mit einem staatstragenden Foto von Präsident Erdogan auf der Titelseite.
Bruch zwischen Erdogan und Gülen
„Zaman“ gehört – wie einst auch „Bugün“ – zum Umfeld des Predigers Fethullah Gülen, der im Exil in den USA lebt. Kritisch war „Zaman“ nicht immer, im Gegenteil: Als Gülen noch ein enger Verbündeter Erdogans war, unterstützte das Blatt die islamisch-konservative Regierungspartei AKP nach Kräften. Dann kam es zum offenen Bruch zwischen Gülen und Erdogan. Inzwischen ist Gülens Bewegung in der Türkei als Terrororganisation eingestuft. Der Vorwurf: Gülen habe Erdogan stürzen wollen.

Proteste bei der Verhaftung von Dündar und Gül
Reporter ohne Grenzen verortet die Türkei auf ihrer Rangliste der Pressefreiheit allerdings nicht an der Spitze oder auch nur in der oberen Hälfte, sondern auf Platz 149 von 180 Staaten – knapp über der Demokratischen Republik Kongo.
Can Dündar und Erdem Gül sind allerdings wieder aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Veranlasst hat das das Verfassungsgericht, das ihre Persönlichkeitsrechte und das Recht auf Meinungsfreiheit verletzt sah. Als sie nach ihrer Freilassung beim kritischen Fernsehsender IMC TV auftraten, stoppten die Behörden dessen Ausstrahlung.
Erdogan persönlich hatte Dündar und Gül angezeigt. Entsprechend unzufrieden ist der Präsident mit dem Urteil des höchsten Gerichts – auch wenn den Journalisten weiter der Prozess wegen Geheimnisverrats gemacht wird, an deren Ende lebenslange Haft droht. „Ich sage es offen und klar, ich akzeptiere das nicht und füge mich der Entscheidung nicht“, sagte Erdogan. „Ich respektiere sie auch nicht.“ Wirklich europäisch ist diese Haltung nicht.