Die Türkei hält Europa viele Probleme vom Hals.Das kann aber nicht heißen, dass die EU zu den Vorgängen in den Land schweigt.
Ein Kommentar:
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Protestnoten in Richtung Ankara
Es schlägt wieder einmal die Stunde der Realpolitiker. In der Türkei wütet der Präsident und Europa nimmt es hin. Zugegeben: es werden Protestnoten in Richtung Ankara geschickt, Österreich hat den türkischen Botschafter einbestellt und manch ein Regierungschef wagt sogar den Finger zu heben und zu kritisieren, dass Recep Tayyip Erdogan die Demokratie mit Füßen tritt. Der große Aufschrei aber bleibt aus. Irgendwie ist das verständlich, denn schließlich hält die Türkei den Europäern einige Probleme vom Hals. Da ist etwa der Flüchtlingsdeal. Die Angst in Brüssel ist, dass Millionen Menschen den Kontinent fluten könnten – würde Erdogan die Verzweifelten nicht zurückhalten. Dass Europa zu den Vorgängen in der Türkei schweigt ist Realpolitik. Diese Art der kühlen, sachlichen Verhandlungsführung – ohne Schaum vor dem Mund und ohne ideologische Verblendung – ist wichtig und richtig. Demokratien müssen bisweilen auch mit Autokraten und Diktatoren verhandeln, die Welt würde sonst in Chaos und wohl auch Krieg versinken.
Opportunismus und Duckmäusertum
Die zentrale Frage aber ist, wann Realpolitik aufhört und wann Opportunismus und Duckmäusertum anfangen. Es gereicht nicht immer zum eigenen Vorteil, gegenüber einem starken Verhandlungspartner für seine Werte einzustehen. Aber es gibt Momente, da gibt es keine andere Möglichkeit. Im Fall der Türkei ist ein solcher Moment gekommen. Erdogan hat auf den Putsch der Militärs mit einem Gegenputsch geantwortet. Er beseitigt jetzt die letzten Reste von Demokratie, die in seinem Land noch existiert haben. Dem muss Einhalt geboten werden. Aber wie?
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#Erdogan-Gegner sind nicht nur in der Türkei bedroht, auch hier fühlen sie sich immer mehr unter Druck gesetzt.https://t.co/GmnM7PolWi
— tagesthemen (@tagesthemen) 20. Juli 2016
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Europa wundert sich, dass der Präsident nicht auf die Protestnoten aus Brüssel, Berlin oder Paris reagiert. Tatsache ist: Erdogan geht es schon lange nicht mehr um den Beitritt zur Europäischen Union. Der Machterhalt im eigenen Land hat für ihn oberste Priorität. Für den Autokraten vom Bosporus ist das eine existenzielle Frage. Wird in einer funktionierenden Demokratie ein Präsident oder ein Regierungschef abgewählt, geht er in die Opposition oder auf sein Altenteil. Für Erdogan gibt es diese Option nicht. Verlöre er die Macht, würde er von seinen siegreichen Gegnern zerrissen werden – und das nicht nur im politischen Sinne. Erdogan ist ein Getriebener.
Erschreckend wenig Einfluss
Für Europa hat das fatale Konsequenzen: die Einflussmöglichkeiten sind erschreckend gering. Das kann aber nicht heißen, zu kapitulieren und sich an die Hoffnung zu klammern, dass Erdogan – wenn er sich schon nicht an Recht und Gesetz im eigenen Land hält – wenigstens die internationalen Verträge wie das Flüchtlingsabkommen einhält. Europa kann der Türkei helfen, aus der Sackgasse zu gelangen, in die sie Erdogan manövriert hat. Wichtig ist, dass beide Seiten endlich ehrlich sind. Es kann nicht laufen wie bei den verlogenen Verhandlungen zum EU-Beitritt. Brüssel muss klar sagen, was erwartet wird und Ankara muss ebenso klar erklären, was man zu liefern bereit ist. Europa darf dabei nicht müde werden daran zu erinnern, welche Werte nicht verhandelbar sind, weil sie den Kontinent stark und friedlich gemacht haben: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und freie Marktwirtschaft. Ein erster Schritt in Richtung dieser neuen Ehrlichkeit wäre, die aktuellen EU-Beitrittsverhandlungen auf Eis zu legen.
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Walpot zur Lage in der #Türkei: „Sehr viel Angst spürbar“ – @ZDF-Kamerateam wurde von Zivilpolizisten angehalten https://t.co/tSAUyipBt6
— ZDF heute (@ZDFheute) 21. Juli 2016
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Deutschland kommt in diesem Spiel der wertegeleiteten Realpolitik eine Schlüsselrolle zu. Hier leben Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln, die die Vorteile eines demokratischen Rechtsstaates genießen. Diese Kanäle gilt es zu nutzen – im Guten, wie im Schlechten. Denn sollten Nationalisten, Erdogan-Anhänger, Kurden oder wer auch immer versuchen, die Konflikte aus der Türkei nach Deutschland zu tragen, dann muss die Demokratie zeigen, dass sie nicht nur viele Freiheiten bietet, sondern auch sehr wehrhaft ist.