Der 11. November ist für die Polen ein besonderer Tag. Gefeiert wird der Jahrestag der Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit Polens im Jahr 1918. Dieses Jahr haben viele Polen die Innenstadt von Warschau aber gemieden. Der Grund: Tausende Nationalisten und Rechtsradikale sind bei einem sogenannten Unabhängigkeitsmarsch durch die Straßen der Hauptstadt gezogen.
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11 Listopada. Jeden z największych Marszów Niepodległości w historii. Policja zatrzymała 45 Obywateli RP https://t.co/Ajsm97HCv2
— Gazeta Wyborcza.pl (@gazeta_wyborcza) 11. November 2017
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„Gott, Ehre, Vaterland“
Es war eine gespenstische Kulisse. Zahlreiche Teilnehmer des Marsches entzündeten bengalische Feuer. Sie riefen Slogans wie „Gott, Ehre, Vaterland“ und „Polnische Industrie in polnische Hände“. Die Polizei war mit einem Großaufgebot von rund 6000 Beamten im Einsatz, um die Menge unter anderem mit Absperrgittern unter Kontrolle zu halten.
Dieses Mal jährte sich der Gedenktag zum 99. Mal. Im Jahr 1918 war die lange Teilung Polens durch Preußen, Österreich-Ungarn und Russland überwunden worden. In der offiziellen Zeremonie in Warschau zum Nationalfeiertag hatten Präsident Andrzej Duda und weitere Spitzenpolitiker am Grabmal des unbekannten Soldaten Kränze niedergelegt. Auf Einladung Dudas nahm an diesen Feierlichkeiten auch EU-Ratspräsident Donald Tusk teil. „Kein Politiker in Polen hat oder wird in Zukunft ein Monopol auf den Patriotismus haben“, mahnte der Ex-Ministerpräsident der oppositionellen Bürgerplattform (PO). Wegen umstrittener Justizreformen hatte die EU Ende Juli ein Verfahren gegen die nationalkonservative Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) in Warschau gestartet.
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Piękny widok :))) Niech żyje Polska! Duma ❤️🇵🇱✌️#11listopada #ŚwiętoNiepodległości #MarszNiepodległości2017 #Woronicza17 pic.twitter.com/jECrUk0XCc
— Brunetka ✝️🇵🇱 (@brunetka6853) 12. November 2017
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Nationalisten und Rechtsradikale
Diese mahnenden Worte interessieren die Nationalisten und Rechtsradikale aber nicht. Es sind vor allem Männer, junge und alte, viele mit rot-weißen Armbinden, dem Ankersymbol des Warschauer Aufstands 1944, Eisernem Kreuz. Die Stimmung ist martialisch, insbesondere rund um den nahe gelegenen Kulturpalast versammelt sich die extreme Rechte. Auf dem Boden liegen unzählige leergetrunkene Wodka-Flaschen, dank der 24-Stunden-Alkoholshops ist auch am Feiertag immer für Nachschub gesorgt.
Wenige Hundert Meter weiter am Plac Zbawiciela ist die Stimmung anders: Hier trifft sich eine bunte Mischung aus Antifa, den Oppositionsparteien Razem und Nowoczesna, früheren Anarchos, Studenten und Altlinken, die schon in den Achtzigerjahren gegen die russische Unterdrückung demonstriert haben. Studenten und Hipster mischen sich unter Menschen im Rollstuhl und auf Krücken, im Hintergrund läuft Musik von Scooter.
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Marsz Niepodległości w zagranicznych mediach. „Tysiące nacjonalistów i faszystów na ulicach Warszawy“ https://t.co/6Wr59wAYoY
— Gazeta Wyborcza.pl (@gazeta_wyborcza) 11. November 2017
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Vom Krieg traumatisiert
Begonnen haben die Märsche zum polnischen Unabhängigkeitstag 2009, damals noch mit wenigen Hunderten, ausschließlich polnischen Teilnehmern. Mittlerweile kommen jedes Jahr bis zu 100.000 Menschen. Dass der Marsch der Nationalisten ausgerechnet in Warschau diese Ausmaße annimmt, ist aus mehreren Gründen paradox: Warschau lag 1945 in Schutt und Asche, das Land war durch Holocaust und Krieg traumatisiert. Die Polen haben unsäglich unter Faschismus und Extremismus gelitten – und doch preisen nun Rechtsradikale die Nation.
„Wenn es eine Lektion gibt, die jeder Europäer – und nicht nur die jüdischen – aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelernt hat, dann lautete sie „Niemals wieder“. Doch niemals wirkte diese Devise hohler als bei der Parade von rund 60 000 Leuten, meist Männer, durch die Straßen von Warschau. Zumeist mit der Losung „Wir wollen Gott“, aber es wurden auch ein „Weißes Polen“, ein „Holocaust für Muslime“ und eine „Brüderschaft weißer Nationen“ gefordert. (…)
Überzeugte Nazis sind noch ein sehr kleiner Teil dieser Bewegung. Wir sehen keine Rückkehr zu 1930. Aber die Losungen erinnern an Geschehnisse vor 80 Jahren. Was wir erneut erleben, ist eine wachsende Schar von Männern, die wissen, dass die Wirtschaft keine würdevolle Verwendung für sie hat und die meinen, dass diese Beleidigung ihres Selbstwertgefühls zugleich eine Beleidigung der Nation, der Religion oder gar der Rasse sei, auf die sie stolz sind. Und über alle drei bringen sie mit ihrer Reaktion Schande. Dies sind gefährliche Emotionen.“