Frankreichs Präsident hat die Stimmung im Volk völlig falsch eingeschätzt. Seine Reform wird zum Reförmchen und die Quittung für sein Versagen wird es bald bekommen.
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Demonstration in Paris gegen die Rentenreform von Emmanuel Macron
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Ein Volk aus vielen Helden
Der Streik in Frankreich kennt einen großen Helden: das Volk. Mit bewundernswerter Gelassenheit lassen die Franzosen dieses nicht enden wollende Elend über sich ergehen. Der seit Wochen bestreikte Nahverkehr stürzt die Pendler in Paris und anderen Städten jeden Tag von neuem ins Chaos, Fernzüge fahren nur sporadisch, viele vor allem kleine Unternehmen im Land leiden inzwischen unter den wirtschaftlichen Einbußen. Das Ende der Blockade ist auch jetzt noch nicht abzusehen.
Der Streik in Frankreich kennt aber auch einen großen Verlierer: Emmanuel Macron. Den Plan, das Rentensystem in Frankreich gerechter und vor allem auch finanzierbar zu machen, kann der Präsident längst nicht mehr halten. Am Schluss der Auseinandersetzung mit den Gewerkschaften wird von dem versprochen großen Wurf nur ein Reförmchen übrigbleiben. Unter dem Druck des Streiks zeigt sich die Regierung längst zu allerlei Ausnahmen bereit. Selbst das Renteneintrittsalter mit 64, so etwas wie der Heilige Gral dieser Reform, steht plötzlich zur Disposition. Denn Emmanuel Macron hat die Rechnung ohne die kampfbereiten Gewerkschaften gemacht. Zwar haben einige gemäßigte Organisationen bereits ihren Einigungswillen signalisiert, doch der harte Kern zeigt sich unnachgiebig und fordert noch immer, dass die gesamte Reform zurückgenommen wird. Noch ist nicht abzusehen, wie diese Kraftprobe ausgehen wird.
Die Renaissance der Gewerkschaften
Den Gewerkschaften hat der Arbeitskampf zu einer wahren Renaissance verholfen. Sie scheinen erleichtert, endlich wieder als Kämpfer für die Rechte der Arbeitnehmer öffentlich wahrgenommen zu werden und genießen die Auftritte vor den Fernsehkameras. Während der Proteste der Gelbwesten waren sie noch völlig abgemeldet. Das hatte allerdings zur Folge, dass sich die vielen, untereinander konkurrierenden Gewerkschaften beim aktuellen Streik in eine Art Überbieterwettkampf begeben haben – jede Organisation ging mit immer radikaleren Forderungen für ihre Klientel in die Verhandlungen.
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France’s ‚Spider-Man‘ is back, scaling a Paris skyscraper in support of the pension strikers. Alain Robert scaled the Tour Total, a 48-story skyscraper, to show support for the workers striking against the government’s pension-reform plans https://t.co/crQycuCUMU pic.twitter.com/lcLr7QOSVr
— Reuters (@Reuters) January 14, 2020
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Unverständlich ist, wie Emmanuel Macron diese Gesamtsituation und vor allem die tiefe Unzufriedenheit seines Volkes unterschätzen konnte. Eigentlich hätte er durch die monatelangen sozialen Proteste der Gelbwesten gewarnt sein müssen. Offensichtlich glaubte der kühle Taktierer in Paris aber, dass die Streiklust der Menschen im Land inzwischen erschöpft sei und er es sich erlauben könne, mit der Brechstange soziale Veränderungen durchzusetzen, die tief in das Leben der Franzosen eingreifen. Der Präsident hat sich getäuscht.
Macron provoziert eine „convergence des luttes“
Was Macron provoziert hat, ist eine „convergence des luttes“, der Zusammenschluss verschiedener sozialer Kämpfe. Bei den Massenprotesten in Paris und anderen Städten gehen nicht nur gewerkschaftlich organisierte Eisenbahner auf die Straße. Auch das Krankenhauspersonal, Anwälte, Lehrer, Studenten oder Feuerwehrleute machen ihrer Frustration über die bisweilen unhaltbaren Arbeitszustände Luft.
Die inhaltlichen Unterschiede in der Protestfront werden dabei von der Wut der Streikenden auf Emmanuel Macron übertüncht. Diese bisweilen eher verwirrende Kakophonie in den Demonstrationszügen macht deutlich, dass die Reform des Rentensystems nur eines von sehr vielen fundamentalen Problemen ist, die es in Frankreich in den nächsten Jahren zu lösen gilt.
Der Protest erreicht alle Berufsgruppen
Eine solche Welle des Protestes über alle Berufsgruppen hinweg gab es zuletzt 1995, als der damalige Premierminister Alain Juppé im Auftrag des Präsidenten Jacques Chirac eine Rentenreform durchziehen sollte. 23 Tage dauerte damals der Streik, der das Land lähmte. Am Ende wurde die Reform abgeblasen und der Regierungschef musste seinen Hut nehmen.
Der aktuelle Streik in Frankreich dauert inzwischen fast doppelt so lange und es gilt als sicher, dass Emmanuel Macron auf die Quittung für sein Versagen nicht lange wird warten müssen. Im März finden in Frankreich Kommunalwahlen statt, sie gelten als entscheidender Test für die Präsidentenwahl in zwei Jahren.