Dem legendären Restaurant des verstorbenen Erfinders der „Nouvelle Cuisine“ wird vom Guide Michelin ein Stern entzogen. Für manche Franzosen ist das so etwas wie eine nationale Katastrophe.
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„Erschütterndes Urteil“ der Testesser
Eine französische Ikone ist vom Sockel gestürzt. Der Guide Michelin hat dem weltberühmten Restaurant „L’Auberge du Pont de Collonges“ nach 55 Jahren seinen dritten Stern entzogen. Zwei Jahre nach dem Tod des Jahrhundertkochs Paul Bocuse habe die Küche nicht mehr das Niveau wie zu Zeiten des legendären Chefs, heißt es zur Erklärung von Seiten des einflussreichen Restaurantführers, der am 27. Januar seine neuste Ausgabe präsentiert. Das degradierte Kochteam äußerte sich „erschüttert über das Urteil der Testesser“.
Seit Jahrzehnten lockt der Gourmettempel Feinschmecker aus der ganzen Welt nach Lyon ans Ufer der Saône, doch schon vor dem Tod des Vaters der „Nouvelle Cuisine“ wurde von Kritikern hinter der Hand gemunkelt, dass die Küche längst nicht mehr das einstige Drei-Sterne-Niveau erreiche. Das war wohl ein Grund, weshalb das legendäre Restaurant von den Testern zuletzt offensichtlich etwas genauer unter die Lupe genommen worden ist.
Paul Bocuse – Erfinder der Nouvelle Cuisine
Einfache Zubereitung, frische Zutaten, Regionalität war das lebenslange Credo von Paul Bocuse, dem sich nach dessen Tod mit 91 Jahren auch seine Erben verschrieben hatten. Bocuse war aber auch ein großer Showmaster, trug den Trikolore-Kragen und die hohe Kochmütze mit Stolz. Er war einer der ersten Köche, die den Mut hatten, aus der Küche zu kommen. Zum großen Restaurant gehörte für ihn das Zelebrieren von Essen und Trinken.
Doch die Nachfolger waren sich der Last des Rufes bewusst, hatten aber auch die Gefahr des Stillstands erkannt, wollten sich auf den Lorbeeren nicht ausruhen. Sie wussten, dass sich sich neuen Entwicklungen nicht verschließen konnten. „La tradition en mouvement“ (Tradition in Bewegung) laute deshalb der Leitspruch, hatte der neue Restaurant-Chef Vincent Le Roux noch vor einigen Tagen selbstbewusst erklärt. Und nun solch eine Niederlage!
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France’s Bocuse restaurant loses third Michelin star after chef’s death https://t.co/NVtWk8VeVX pic.twitter.com/gnHpiV1wLh
— Reuters (@Reuters) January 17, 2020
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Allerdings müssen auch die Testesser nach ihrer spektakulären Einschätzung ziemlich viel Kritik einstecken. „Das ist eine völlig absurde Entscheidung“, ereifert sich der bekannte Gastro-Experte Périco Légasse im Interview bei „France Info“. Die Leute vom Guide Michelin wüssten nicht mehr, was gutes Essen ist.
Neuer Wind beim Guide Michelin
Seit einem Chefwechsel weht beim „Guide rouge“, wie die Feinschmeckerbibel des Reifenherstellers Michelin in Frankreich genannt wird, ein neuer Wind. Der neue Verantwortliche Gwendal Poullennec sagte einmal der Zeitung „Le Monde“, die Sterne gehörten nicht den „Chefs“, wie Spitzenköche in Frankreich genannt werden. Er verstehe die Emotionen des Teams, reagierte Poullennec nun. Doch zwei Sterne seien der aktuelle Wert des Hauses – zu diesem Ergebnis seien die Tester gekommen. „Michelin-Sterne werden nicht vererbt, man muss sie sich verdienen.“
Kritik am Guide Michelin
Das weckt natürlich auch Widerstand. Um die Bewertungen der Tester in Zweifel zu ziehen, wird inzwischen immer wieder das Beispiel des französischen Spitzenkoches Marc Veyrat ins Gedächtnis gerufen. Auch ihm hatte der Guide Michelin im vergangenen Jahr den dritten Stern aberkannt. Doch er wollte sich die Vertreibung aus dem kulinarischen Olymp nicht gefallen lassen und zog vor Gericht.
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Perte de la troisième étoile de Bocuse : „C’est comme si on détrônait le pape“, s’offusque Marc Veyrathttps://t.co/ZrbN9edzBe pic.twitter.com/yiAo7EFpGP
— franceinfo (@franceinfo) January 17, 2020
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Der exzentrische Koch wollte die genauen Gründe für den Entzug des Sterns wissen und verlangte, dass die Testprotokolle offengelegt werden. Außerdem hatte er einen symbolischen Euro Schadenersatz für entgangene Gewinne gefordert. Doch Marc Veyrat musste eine herbe Niederlage einstecken. Die Unabhängigkeit der Restaurantkritiker bei ihren Bewertungen sei durch das Recht auf Meinungsfreiheit garantiert, urteilten die Richter. Fazit: über guten Geschmack auch beim Essen kann also weiter gestritten werden.