Die umstrittene Verleihung des Film-César an Roman Polanski löst in Frankreich eine heftige Diskussion aus – Themen sind Sexismus, Gleichberechtigung und die kulturelle Identität des Landes.
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Demonstration gegen die Verleihung des César an Roman Polanski in Paris
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Finkielkraut sieht die Kultur Frankreichs in Gefahr
Schließlich hat sich Alain Finkielkraut doch noch zu Wort gemeldet. Der große Welterklärer konnte nicht länger schweigen zu einem Thema, das die intellektuelle Elite Frankreichs in helle Aufregung versetzt: die Verleihung des Filmpreises César und die daraus resultierenden Erschütterungen in der Kulturwelt. Der Essayist und Philosoph beschränkt sich in seinem wütenden Aufsatz in „Le Figaro“ natürlich nicht auf die Einordnung einer fürchterlich missratenen Gala. Er zieht den Kreis weiter, Finkielkraut beklagt einen in seinen Augen naiv zelebrierten Multikulturalismus und bringt zum Ausdruck, dass er die nationale Identität und die ganze Kultur Frankreichs bedroht sieht.
Ihm assistiert eine ganze Phalanx konservativer Essayisten, die mit großer Wucht in dieselbe Kerbe schlägt und in vielen Nuancen den „Meinungsterror der Minderheiten“ anprangert. Wobei jeder seine eigene Minderheit aus dem Hut zaubert: Schwule, Lesben, Schwarze, Muslime, Einwanderer, Feministinnen, um nur einige zu nennen.
Rundumschlag gegen die Mächtigen des Staates
Aber auch die Gegenseite geht nicht gerade zartbesaitet ans Werk. Die bekannte Romanautorin Virginie Despentes holt in einem Essay in der Zeitung „Libération“ zu einem wortgewaltigen Rundumschlag gegen die Mächtigen des Staates und der Kultur aus, die nach ihrer Ansicht mit Geld die Welt regieren, einen verabscheuungswürdigen Sexismus ausleben, Vergewaltiger in den Himmel heben und von den Opfern fordern zu schweigen.
Die Schärfe der Auseinandersetzung lässt erahnen, dass es unter der mit Glamour bedeckten Oberfläche schon lange gebrodelt haben muss. Die Verleihung des Regie-César an Roman Polanski war lediglich der berühmte Funken, der die Explosion eingeleitet hat. Im Vorfeld hatten unzählige Gruppen gegen den Filmemacher protestiert und schon zum Kinostart von „J’accuse“ (Intrige) im November wurden wütende Rufe nach Absetzung des Films laut. Einer von mehreren Gründen: kurz zuvor hatte ein früheres Model dem umstrittenen Polanski vorgeworfen, sie 1975 vergewaltigt zu haben. Der 86-jährige Filmemacher bestreitet dies.
Ein Einblick in die Seele Frankreichs
Unter diesen Vorzeichen war diese denkwürdige César-Gala plötzlich mehr als die glamouröse Verleihung eines Filmpreises. Sie wurde zum Einblick in den Gemütszustand einer tief im Innern erschütterten französischen Kulturwelt. Klar ist bisher nur: alte Gewissheiten sind verflogen, zu erkennen sind eine überraschende Orientierungslosigkeit, viel unterdrückte Wut auf allen Seiten und noch mehr Verunsicherung.
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Wut über Filmpreis für Roman Polanski: Ihr könnt uns mal!
„Eure Politik besagt: Die Opfer sollen schweigen.“#MeToo https://t.co/1SZg28PKb5 via @derspiegel— Beate Kriechel (@BeateKriechel) March 9, 2020
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Alain Finkielkraut gilt als Prototyps eines Vertreters der alten Kulturepoche, die sich mit der neuen, selbstbewussten Generation von französischen Kunstschaffenden schwertun. Doch er hat seine neue gedankliche Heimat bereits gefunden: beim rechtsradikalen Front National, der sich heute etwas moderater Rassemblement National nennt. Wie deren Chefin Marine Le Pen sieht der Philosoph insbesondere die Einwanderung als Gefahr für Frankreich, denn die einheimische Bevölkerung bestimme nicht mehr die kulturelle Linie.
Polanski erhält prominente Unterstützung
Zu dieser Kultur gehörte auch, dass sich Künstler in Frankreich bisher offensichtlich in einer Art geschütztem Raum bewegen konnten. Über mancherlei – auch strafrechtlich relevante – Eskapaden wurde großzügig hinweggesehen. In dieses Bild passt, dass einige berühmte Kunstschaffende in diesem Sturm der Empörung Roman Polanski demonstrativ beiseite springen – Fanny Ardant und Carla Bruni gehören dazu. Ähnlich wie Finkielkraut argumentieren sie, man müsse Mensch und Kunstwerk voneinander trennen.
Der Philosoph geißelt zudem die angebliche Bigotterie der Kritiker. Auch Ladj Ly, der Regisseur des Siegerfilmes „Les Miserables“, hat im Gefängnis gesessen. Bei dem farbigen Filmemacher aus einem berüchtigten Banlieue von Paris werde dieser Makel aber großzügig übergangen, während Polanski auf den Scheiterhaufen der Moral geopfert werde. Den Grund sieht Finkielkraut darin, dass das „neue Frankreich“ für alles einen Schuldigen gefunden habe: den „alten, weißen Mann“.
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„Cette soirée placée sous le signe de la libération des femmes, ressemblait furieusement à une vidéo d’Alain Soral…“ #Finkielkraut, le dernier punk.#cesars2020 https://t.co/88wBYTlMcr
— Raphaël Enthoven (@Enthoven_R) March 3, 2020
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Ätzender Spott für die Kritiker der alten Welt
Mit ätzendem Spott reagieren die Verteidiger des alten Frankreich auf die Forderung nach Gleichberechtigung und dass auch die Welt der Kultur die ganze Gesellschaft abbilden müsse. Die schwarze Schauspielerin Aïssa Maïga bemerkt dazu, dass es ihr zu einer Gewohnheit geworden sei, bei jeder Film-Gala die sehr wenigen Schwarzen im Saal zu zählen. Allein solch eine Aussagen, die zum Nachdenken anregen müsste, löst in der Post-Polanski-Diskussion einen konservativen Aufschrei aus, als hätte Aïssa Maïga einen zerstörerischen Generalangriff auf die französische Gesellschaftsordnung gestartet.
Eine multikulturelle Gesellschaft sei eine zersplitterte Gesellschaft der vielen Konflikte, antwortete ihr der Autor Yves Mamou in einem vom Furor durchzogenen Artikel in der Tageszeitung „Le Figaro“. Und er lässt keinen Zweifel daran, dass auch er sich ein weißes, männliches, monolithisches Frankreich erträumt, in der Frauen allenfalls die Rolle von bewunderten Göttinnen einnehmen. Auf zwei zentrale Aussagen können sich die Vertreter des neuen und alten Frankreich am Ende dann doch immer einigen: der Kulturbetrieb geht schwierigen Zeiten entgegen. Und: nach dieser 45. César-Verleihung wird nichts mehr sein, wie es einmal war.