EU muss der Türkei ein Zeichen setzen

In der Türkei wird die Meinungsfreiheit immer offensichtlicher mit Füßen getreten. Nun sind zwei Mitarbeiter von Amnesty International zusammen mit sieben weiteren Menschenrechtsaktivisten festgenommen worden. Ein Kommentar:

17.07.06-amnesty

Feinde des Staates

Die Menschenrechtsaktivisten berieten auf einer Tagung in der Nähe von Istanbul darüber, wie Menschenrechtler weiter in der Türkei arbeiten können. Die Aktivisten haben postwendend eine Antwort auf diese Frage bekommen: sie werden als Feinde des Staates angesehen. Einmal mehr ist deutlich geworden, dass die Türkei die Zivilgesellschaft nicht als Teil und Grundlage der Demokratie ansieht, sondern als Bedrohung für den Staat einschätzt. Gleiches gilt für die inzwischen rund zehntausend Menschen, die mit ihrem „Marsch der Gerechtigkeit“ friedlich gegen den Präsidenten Recep Tayyip Erdogan protestieren. Der Staatschef droht, gegen die Organisatoren des Marsches juristisch vorgehen zu wollen. Da die Justiz in der Türkei längst seine Unabhängigkeit verloren hat, werden dieser Aussage sehr wahrscheinlich weitere Verhaftungen folgen.

Die EU muss reagieren

Die Demokratien im Westen dürfen dieser Demontage der Demokratie nicht tatenlos zusehen. Das Europaparlament hat am Donnerstag die Gelegenheit ein Zeichen zu setzen. In Straßburg entscheiden die Abgeordneten darüber, ob sie die EU-Beitrittsgespräche mit Ankara weiter führen wollen. Letztlich entscheiden über eine Aussetzung müsste allerdings die EU-Kommission. Die Leitlinien sehen vor, dass die Verhandlungen bei einem „schwerwiegenden und anhaltenden Verstoß“ gegen europäische Grundwerte zumindest vorübergehend gestoppt werden können. Konkret genannt sind die Prinzipien der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit. Dieser Fall ist in der Türkei nun eingetreten.

Keine Chance auf eine Mitgliedschaft

Das heißt nicht, dass alle Gespräche mit der Türkei abgebrochen werden. Im Gegenteil, gerade in dieser angespannten Situation ist es wichtig, weiter in Kontakt zu bleiben. Möglichkeiten, sich auszutauschen gibt es genug – die nächste bietet sich bereits beim G-20-Gipfel in Hamburg. Aber die EU muss ein deutliches Signal an Erdogan senden: unter den momentanen Bedingungen hat der Wunsch auf eine Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union keine Chance.

Nachtrag nach der Abstimmung:

Das Europaparlament fordert die Aussetzung der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Die Reformen aus dem türkischen Verfassungsreferendum vom April seien nicht vereinbar mit den „Kopenhagener Kriterien“, heißt es in dem am Donnerstag verabschiedeten Bericht. 477 Abgeordnete stimmten dafür, 64 dagegen, 97 enthielten sich.

 

Eine katastrophales Jahr für die Menschenrechte

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Die Bilanz von Amnesty International ist verheerend. „2014 war ein katastrophales Jahr für Millionen von Menschen, die unter der Bedrohung durch Entführungen, Folter, sexualisierte Gewalt, Anschläge, Artilleriefeuer und Bomben auf Wohngebiete leben mussten“, resümierte die Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion, Selmin Caliskan, am Dienstag bei der Vorstellung des jährlichen Menschenrechtsreports in Berlin.

Die bewaffneten Konflikte hätten zur größten Flüchtlingskatastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg geführt, doch die Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft auf die zunehmende Gewalt und das Elend sei beschämend, sagte Caliskan: „Hier wurde völlig versagt.“

Der Bericht dokumentiert die Menschenrechtssituation 2014 in insgesamt 160 Ländern. In 131 Ländern wurden laut Amnesty Menschen gefoltert und anderweitig misshandelt, in 119 Ländern schränkten die Regierungen die Meinungsfreiheit ein. In 18 Staaten registrierte die Menschenrechtsorganisation Kriegsverbrechen oder andere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht.

Amnesty International spart vor allem im Fall des Krieges in Syrien und dessen Folgen nicht mit Kritik an den Industrienationen Aus Syrien flüchteten vier Millionen Menschen vor dem Bürgerkrieg, ist in dem Bericht zu lesen. 95 Prozent von ihnen wurden in den Nachbarstaaten aufgenommen. Der Libanon habe über 715 Mal mehr syrische Flüchtlinge aufgenommen als die gesamte EU in den vergangenen Jahren, rechnet Caliskan vor. Statt den Schutz der Zivilbevölkerung ins Zentrum internationaler Politik zu stellen, blockierten nationale, geopolitische und wirtschaftliche Interessen ein gemeinsames Handeln und heizten Konflikte noch weiter an, kritisierte die Amnesty-Generalsekretärin.

Völlig unverständlich sei, so ist in dem Menschenrechtsreport 2015 zu lesen, dass die internationale Gemeinschaft nicht adäquat auf eine neue Art von Konflikten reagiere. Die Gewalt gehe immer häufiger von nicht-staatlichen bewaffneten Gruppierungen wie des „Islamischen Staats“ (IS) im Irak und Syrien, der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram in Nigeria oder den pro-russischen Separatisten im Osten der Ukraine aus. In mindestens 35 Staaten hätten solche Gruppen eine eigene, nicht legitimierte Herrschaft aufgebaut und würden Andersdenkenden und ethnische Minderheiten brutal unterdrücken.

Kritik gibt es auch an Deutschland. Die Bundesrepublik wird von Amnesty wegen ihrer Flüchtlingspolitik gerügt, den diskriminierenden Angriffen auf Asylsuchende und Minderheiten und wegen zu wenig Verbesserungen bei Untersuchungen von Menschenrechtsverletzungen durch Polizeikräfte. So hätten bislang nur Berlin, Brandenburg, Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz eine Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte eingeführt. Unabhängige Kommissionen zur Untersuchung von Polizeigewalt gebe es noch in keinem Bundesland.

Der Bericht nennt auch Beispiele für Fortschritte, etwa das Inkrafttreten des UN-Waffenhandelsabkommens ATT im Dezember, das zuvor 50 Staaten ratifiziert hatten. Doch gießt Amnesty sofort Wasser in den Wein: Staaten wie die USA, China oder Russland sollten das Abkommen nicht nur begrüßen, sondern endlich in die Tat umsetzten.