Russland zieht den Westen wie einen Tanzbären durch die politische Arena. Das hat auch damit zu tun, dass uns das Sterben in Syrien und der Rechtsbruch in der Ukraine erstaunlich kalt lassen. Das ist eine gefährliche Entwicklung.
Ein Einwurf:

Ein ukrainischer Panzer auf dem Weg an die Front.
Mischung aus Leitartikel und Predigt
Empört Euch! So lautete der Titel eines kleinen Büchleins, das vor einigen Jahren für einige Furore sorgte. Geschrieben wurde es von dem inzwischen verstorbenen französischen Widerstandskämpfer Stéphane Hessel. Es ist eine Mischung aus Leitartikel, Predigt und Brief an die Nachfahren – mit vielen emotionalen Höhepunkten und ebenso zahlreichen argumentativen Schwächen.
Seine Wucht gewann der Text durch den Nimbus des damals 93 Jahre alten Mannes, der die Jugend – das waren in seinem Fall wohl alle unter 60-Jährigen – auffordert, gegen die Missstände dieser Zeit zu Felde zu ziehen: dass sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter öffnet, dass der Sozialstaat ausgehöhlt wird und Ausländer stigmatisiert werden.
Liste der Unsäglichkeiten
Diese Liste der hingenommenen Unsäglichkeiten lässt sich aktuell um den Krieg in Syrien und die schwelende Ukraine-Krise verlängern. In Syrien geschehen Kriegsverbrechen von unsäglichem Ausmaß – unterstützt von Russland. Im Fall der Ukraine hat Russland ein souveränes Land überfallen, brach und bricht Gesetze, zerstört die seit über einem halben Jahrhundert funktionierende europäische Friedensordnung und verhöhnt die fundamentalen Werte von Freiheit und Demokratie. Was wir erleben ist eine politische Zeitenwende, die Rückkehr in überwunden geglaubte finstere Zeiten – doch in Europa lässt das erschreckend viele Menschen kalt.
Das Morden in Syrien wird hingenommen, achselzucken wird über die Annexion der Krim hinweg gegangen, die Toten im Donbass werden allenfalls zur Kenntnis genommen. Empörend ist auch mit welcher zynischen und menschenverachtenden Rücksichtslosigkeit Moskau die Eskalation und Brutalisierung der Kriege in Syrien und im Osten der Ukraine steuert – und dabei die Regierungen des Westens mit offensichtlichen Lügen und Hinhaltetaktiken wie einen Tanzbären an der Nase herumführt.
Die Welt ist komplex
„Die Gründe, sich zu empören, sind heutzutage oft nicht so klar auszumachen“, räumt Stéphane Hessel ein. „Die Welt ist zu komplex geworden. Wer befiehlt, wer entscheidet?“ Diese Unübersichtlichkeit macht sich der russische Präsident Wladimir Putin zu Nutzen. Ein Beispiel: Es ist schwer wirklich zu beweisen, dass die Separatisten direkt von Moskau unterstützt werden oder wer das Passagierflugzeug MH-17 abgeschossen hat. Der Kreml-Herrscher jedenfalls wäscht seine Hände in Unschuld.
Doch Stéphane Hessel fordert auf, nachzudenken, genau hinzusehen, Verbindungen zu suchen, nach den Gründen zu forschen – und dann zu handeln. Das sei anstrengend, so die Analyse Hessels. Aus diesem Grund werde von vielen inzwischen die „Ohne mich“-Haltung vorgezogen. Diesen Zeitgenossen sei „eines der absolut konstitutiven Merkmale des Menschen abhanden gekommen: die Fähigkeit zur Empörung und damit zum Engagement“.
Die Ohne-mich-Haltung
Im Fall der Ukraine ist die „Ohne mich“-Haltung Europas nicht nur ein Verrat an den fundamentalen Werten der Demokratie – es ist auch gefährlich. Schon gegenüber Moldau, Georgien und Armenien hat Russland das Souveränitätsprinzip der Staaten unterlaufen und der Westen verharrte tatenlos. Ohne nachhaltige Reaktionen blieben auch die faktische Einverleibung von Transnistrien, Abchasien und Südossetien. Die Ukraine ist das vorerst letzte Glied einer langen Kette, deren Ende noch nicht abzusehen ist. Erste kleine Provokationen gegenüber den baltischen Staaten haben von Seiten Russlands schon begonnen.
Natürlich reicht das Gefühl der Empörung, dieser Gerechtigkeitszorn, dieser Drang, etwas zu ändern nicht aus. Ein heißes Herz ersetzt kein Programm. Die Schritte gegen Putin, die Verteidigung der Grundwerte Europas müssen mit kühlem Kopf geplant und umgesetzt werden – die Empörung wirkt dabei wie eine moralische Wirbelsäule. Erst durch das Zusammenspiel von Empörung und Rationalität entfalten – wie auch immer geartete – Sanktionen ihre wirkliche Wucht.