„Es droht ein Bersten der Gesellschaft“

Cem Özdemir, Parteichef der Grünen, sieht in der Türkei einen „zivilen Putsch“ am Werke. Er  sieht „von außen“ derzeit kaum Einflussmöglichkeiten auf die Geschehnisse in der Türkei. Er verlangt gegenüber Präsident Erdogan aber eine klare Haltung.

Ein Interview:

16.07.22-Özdemir

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Herr Özdemir, überkommt Sie zwischendurch der Gedanke, es wäre besser gewesen, wenn der Putsch türkischer Militärs Ende voriger Woche Erfolg gehabt hätte?

Nein, wer die Geschichte der Militärputsche in der Türkei kennt, der weiß, da hat man nichts Gutes zu erwarten. Aber klar ist auch: die Alternative zum Militärputsch kann nicht der zivile Putsch sein. Genau der findet zurzeit statt.

Präsident Erdogan versucht alle tatsächlichen oder vermeintlichen Opponenten aus ihren Ämtern zu vertreiben und ein islamisches Präsidialsystem zu errichten. Ist er noch zu stoppen?

Um es ironisch zu formulieren: Aktuell kann wohl nur er selbst sich stoppen, und das versucht er ja auch gerade. Erdogan ist für sich selbst der größte Feind. Weil er ständig an der Schraube der Eskalation dreht, gefährdet er das Modell Erdogan. Das wird die Gesellschaft irgendwann zum Bersten bringen. Man muss Schlimmstes befürchten für die Türkei.

Bis hin zum Bürgerkrieg?

Es ist zu befürchten, dass das, was bisher als bewaffneter Kampf zwischen PKK und staatlichen Sicherheitskräften ausgetragen wird, auf die Zivilgesellschaft übergreift. Da kann ich nur sagen: Gott behüte!

Deshalb noch einmal die Frage: Wer kann Erdogan stoppen?

Nach Lage der Dinge wohl nur Kräfte in seiner eigenen Partei AKP. Durch den wirtschaftlichen Erfolg des Landes zu Beginn seiner Amtszeit hat Erdogan viele Anhänger gefunden. Dies alles setzt er aufs Spiel. Ich kann mir nicht vorstellen, dass mit einem geschwächten Beamten-, Polizei- und Militärapparat die Sicherheit der Türkei aufrechterhalten und die Wirtschaft auf ihrem heutigen Niveau gehalten werden kann. Willkürherrschaft ist kein gutes Klima für Investitionen, Wachstum und Jobs.

Erdogans Druck auf alle Andersdenkenden ist enorm stark. Müssen wir uns darauf einstellen, bald die ersten Asylbewerber aus der Türkei in Deutschland zu haben?

Ja, ich gehe davon aus, dass die Zahlen nach oben gehen. Ich kenne viele in der Türkei, die sich gerade die Frage stellen, ob sie nicht dauerhaft nach Europa gehen, weil sie den Kampf um Demokratie und Freiheit als verloren ansehen.

Wie sollte Berlin reagieren, wenn jetzt ein türkischer Journalist nach Deutschland kommt und erklärt, er werde in seiner Heimat politisch verfolgt?

Ich wüsste nicht, mit welchem Argument man ihm das Asyl verwehren könnte. Genau für solche Fälle haben wir das Asylrecht. Nach dem Flüchtlingsabkommen mit Ankara müsste die deutsche Regierung jetzt eigentlich ein Programm auflegen für Künstler, Journalisten und Wissenschaftler, das ihnen die Möglichkeit gibt, in Europa einen Platz zu finden. In der Türkei haben sie den im Moment nicht. Wie wäre es, wenn Frau Merkel beim nächsten Türkeibesuch der Erdogan-kritischen Zeitung Cumhuriyet ein Interview gäbe. Das wäre ein starkes Signal, dass unsere Solidarität den Demokraten in der Türkei gilt. Die haben gerade das Gefühl, dass wir sie verraten.

Kann der Flüchtlingsdeal, den die EU mit Erdogan eingegangen ist, noch fortgelten?

Wir als Grüne hatten schon vor dem Putsch viele kritische Fragen, auf die wir von der Bundesregierung wenig befriedigende Antworten bekommen haben. Zum Beispiel nach den Schüssen türkischer Soldaten auf Flüchtlinge an der Grenze zu Syrien. Zum Beispiel nach der Möglichkeit des Islamischen Staates, in der Türkei relativ ungehindert Kämpfer zu rekrutieren. Jetzt stellt sich natürlich eine neue Frage: Wie kann ich sagen, dass Flüchtlinge aus anderen Ländern in der Türkei angeblich sicher sind – aber die Bürger der Türkei selbst sind es nicht?

Ist das Flüchtlingsabkommen also tot?

Ich will nicht sagen, dass eine grüne Regierung nicht mit den Putins und Erdogans dieser Welt reden würden. Aber das kann nicht heißen, dass man Augen zu und durch sagt. Genauso wird beim Flüchtlingsabkommen gehandelt.

Welche Druckmittel würden Sie denn der EU empfehlen, um Erdogan zu beeinflussen?

Viele gibt es da nicht mehr. Der Hebel der EU-Beitrittsverhandlungen bricht uns auch gerade weg. Herrn Erdogan geht es längst nicht mehr um die EU, sondern um den eigenen Machterhalt. Dem hat sich alles andere unterzuordnen. Seine Existenz, auch die seiner Familie und Entourage, hängt an dieser Macht. Darum sind die Möglichkeiten, von außen Einfluss zu nehmen, begrenzt. Was wir aber machen können: Ehrlichkeit in die Debatte bringen…

Was heißt das konkret?

Wir dürfen nun keine neuen Kapitel in den EU-Beitrittsgesprächen eröffnen. Dann würden alle zu Recht sagen: wir haben doch ein Rad ab! Die Beitrittsverhandlungen sind de facto Gespräche, in denen wir so tun, als hätte die Türkei eine faire Chance auf einen Beitritt – und die Türkei tut so, als ob sie daran Interesse hätte. Beides stimmt nicht. Deshalb gehören die Beitrittsverhandlungen auf Eis gelegt. Wir sollten sie aber nicht grundsätzlich abbrechen. Eine demokratische Türkei hat einen Platz in Europa – aber nicht die Erdogan-Türkei.

Die Pogromstimmung, die Erdogan erzeugt, greift auf Deutschland über. Auch hier haben viele Türken Angst vor Übergriffen durch Landsleute. Wie kann man das stoppen?

Das hängt von den Signalen der deutschen Politik ab. Der Arm Erdogans reicht weit, aber er hat hier in Deutschland nichts verloren. Ich erwarte, dass wir die Maßstäbe, die wir an die deutschen Pegidas anwenden auch bei der türkischen Pegida ansetzen, der Türkida. Um es konkret zu machen: Wer mit dem Pegida-Anführer Lutz Bachmann befreundet ist und gemütlich Kuchen essen geht, der kriegt hier Probleme. Wer sich aber mit den türkischen Lutz Bachmanns trifft, und das haben wir bislang an den Spitzen von Staat und Parteien getan, der kommt damit durch. Zum Fastenbrechen gehen und Ringelpiez-mit-Anfassen mit Leuten spielen, die ein Problem mit unserem Grundgesetz haben aber nicht mit dem Erdogan-Fanatismus – das geht künftig nicht mehr. Unser Ministerpräsident hat deshalb richtig gehandelt, als er die Morddrohungen gegen Abgeordnete beim Fastenbrechen in Stuttgart angesprochen hat. Diese Klarheit wünsche ich mir auch in Berlin beispielsweise im Umgang mit der Türkischen Gemeinde zu Berlin

Die türkische Union DITIB ist aber an vielen Stellen Ansprechpartner für Deutsche.

Ja, aber wer hier öffentliche Mittel in Anspruch nimmt, muss mit beiden Füßen auf dem Boden des Grundgesetzes stehen – nicht nur mit Zehenspitzen. Wer DITIB in die Schulen lässt, muss wissen, dass nicht die Kölner Zentrale den Ton angibt, sondern Erdogan. Dessen Gedankengut darf nicht in unsere Schulen kommen.

Sie selbst haben Missgunst und Hass vieler Türken auf sich gezogen. Würden Sie sich derzeit in die Türkei trauen?

Es geht nicht ums trauen, aber es wäre sicher keine sehr kluge Idee, das gegenwärtig zu machen.

 

Hier der Link zur Stuttgarter Zeitung mit einem kurzen Video-Interview

Palmer und die Chance zum Nachdenken

Boris Palmer provoziert gerne – auch mit seinem Interview zur Flüchtlingsfrage im „Spiegel“. Dass viele Grüne entsetzt sind, ist mehr als  verständlich. Es wäre aber auch die Chance, in der Partei über Lösungen der Flüchtlingskrise nachzudenken.  

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Der Spott ist Palmer sicher

Palmer der Provokateur

Boris Palmer erzählt gerne Geschichten aus seinem Alltag als Oberbürgermeister. Eine geht so: Er gehe oft über den Marktplatz und werde dort immer wieder von Leuten angesprochen. Die würden dann Antworten fordern auf Probleme, die in der Stadt anlägen. Da könne man dann nicht zaudern, sagt der Tübinger OB, man müsse den Kopf hinhalten. Das gilt auch für die Frage der Unterbringung von Flüchtlingen.

Immer wieder hat Palmer darauf hingewiesen, dass das gerade in Tübingen – einer Studentenstadt mit wenig Leerstand – ein sehr großes Problem sei. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite ist Palmer natürlich auch ein begnadeter Provokateur. Es scheint ihm bisweilen einen gewissen Spaß zu bereiten, für politischen Aufruhr zu sorgen – vor allen in seiner eigenen Partei.

Dafür hat er nun wieder mit seinem Interview im „Spiegel“ gesorgt. Dort hat der OB seine altbekannte Position noch einmal bekräftigt, dass die unkontrollierte Einwanderung beendet werden müsse. Das bedeute nicht, dass man niemanden mehr nach Europa oder nach Deutschland lassen, so die Idee Palmers, aber „wir entscheiden, wer reinkommt.“ Das heißt für ihn auch: die EU-Außengrenzen sollen mit einem Zaun und bewaffneten Grenzern gesichert werden. So könnten deutlich mehr Flüchtlinge abgewiesen werden.

Aufschrei der Grünen

Dass eine solche Position für einen Aufschrei bei den Grünen – und nicht nur dort – sorgt, ist vorprogrammiert. Allerdings stellt sich die Frage: Was wollen die Parteigenossen Palmers, die ihn nun rüde angehen? „Wer Zäune und Mauern zur Begrenzung der Einwanderung von Flüchtlingen fordert, spielt in erster Linie rechten Hetzern in die Hände“, wirft ihm Parteichefin Simone Peter vor. Eine solche Attacke erweckt den Eindruck, da solle einer mundtot gemacht werden.

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Palmer in einer Karikatur der Grünen Jugend

Aber genau das Gegenteil muss der Fall sein. Jetzt muss offen diskutiert werden, nach welchen Regeln Flüchtling zu uns kommen dürften. Ob zum Beispiel bittere Armut als Fluchtgrund anerkannt wird. Es muss darüber geredet werden, unter welchen Umständen jemand legal nach Europa kommen kann. Das heißt aber auch, dass Menschen, die diese Kriterien nicht erfüllen, an der Grenze abgewiesen werden. Diese Diskussion verlangt, dass die Protagonisten Stellung beziehen – und davor haben sich die Grünen bisher gedrückt. Die meisten Vorschläge gehen im Grund nicht über allgemeine Bekenntnisse hinaus, detaillierte Entwürfe zu einem Einwanderungsgesetz fehlen.

Es fehlt ein Konzept

Die Grünen in Berlin sonnen sich gerne im Erfolg ihrer Partei in Baden-Württemberg. Dieser Erfolg ist vor allem dem großen Realitätssinn ihrer Protagonisten im Südwesten geschuldet. Auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat sich deswegen schon mit der Führungsetage im Bund angelegt. Boris Palmer, Kretschmann und auch Dieter Salomon in Freiburg sind in der Verantwortung und sie müssen fast täglich die Diskussionen führen, denen sich Grüne Parteiführung in Berlin bisher verweigert. Die Partei muss und kann nicht mit Palmers Aussagen zur Flüchtlingspolitik übereinstimmen – es wäre aber an der Zeit, an der Realität orientierte, tragfähige Konzepte für die Zukunft zu entwickeln.

 

Nachtrag:

Und hier geht es zur Berichterstattung in der Stuttgarter Zeitung zu dem „Fall Palmer“

 

Özdemir warnt vor einem Bürgerkrieg in der Türkei

Cem Özdemir gelingt ein Besuch in der umkämpften kurdische Stadt Cizre. In der lange abgeriegelten Stadt fanden in den vergangenen Tagen schwere Kämpfe statt.

Özdemir – hier bei einem Besuch im Nordirak – kritisiert die türkische Regierung.

Das Ende der Stabilität

In der Türkei bestehe angesichts der eskalierenden Gewalt die Gefahr eines Bürgerkrieges. Das sagte  Grünen-Chef Cem Özdemir nach dem Besuch in der umkämpften Stadt Cizre.  „Man muss aufpassen, dass es sich nicht in diese Richtung entwickelt. Von politischer Stabilität kann in der Türkei längst keine Rede mehr sein.“ In Cizre war es in den vergangenen Tagen zu schweren Zusammenstößen zwischen  Sicherheitskräften und Kämpfern der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK gekommen. Ausgehsperren wurden verhängt und Sicherheitskräfte riegelten die Stadt von der Außenwelt ab. Özdemir zeigte sich sichtlich beeindruck durch die Zerstörungen in Cizre,  „eine völlig neue Dimension erreicht haben“. Man könne nur erahnen, mit welcher Brutalität die Angriffe geführt worden seien, sagte er. Özdemir forderte die  Regierung und die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK zu einer sofortigen Waffenruhe auf. „Der Ort zur Lösung der kurdischen Frage ist das Parlament“, so der Politiker, der auf seiner Reise von der  Fraktionsvorsitzenden der Grünen im Europaparlament, Rebecca Harms begleitet wurde.

Kritik an Erdogan

Özdemir äußert sich allerdings  skeptisch, dass die Verantwortlichen in Ankara den  Verhandlungsweg einschlagen werden.   Er wirft  Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan vor, auf eine „innenpolitische Verschärfung“ der Lage gesetzt zu haben. Grund sei, dass Erdogans islamisch-konservative AKP bei der Parlamentswahl im Juni die von ihm gewünschte verfassungsändernde Mehrheit verfehlt habe. „Er hat das Land ohne Not in eine Krise gestürzt.“ Nach dem Scheitern von Koalitionsverhandlungen hat Erdogan für den 1. November Neuwahlen ausgerufen.

An Ansehen verloren

Durch das Verhalten des Präsidenten habe die Türkei in der internationalen Staatengemeinschaft an Ansehen verloren. Der Westen müsse versuchen, seinen Einfluss auf Ankara geltend zu machen. „Als Nato-Mitglied und EU-Beitrittskandidat muss die Türkei erkennen, dass sich das Land an demokratische Grundsätze halten muss“, erklärt Özdemir. Rücke Ankara nicht von seinem Konfrontationskurs mit den Kurden ab,  sollte der Westen prüfen, ob das G-20-Treffen im November in Antalya stattfinden soll. Das wäre, so Özdemir, ein deutliches Signal an Erdogan.

#NoHateSpeech

Fette Sau, Abschaum, Schlampe – jeden Tag muss Katrin Göring-Eckardt solche Verbalinjurien auf ihrer Facebook-Seite lesen. Nun hat die Co-Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Bundestag die Nase voll. Mit einer ungewöhnlichen Aktion geht sie gegen fremdenfeindliche Einträge in sozialen Medien vor. Hier der Link zu dem Youtube-Video

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„Das ist Dreck“

In einem Video verliest Göring-Eckardt Hasskommentare, die an sie gerichtet sind. Und sie lässt keine Zweifel aufkommen, was sie davon hält: „Das ist Dreck, der gehört in die Mülltonne.“ Sie richtet sich in dem Beitrag auch direkt an die Schreiber dieser Hass-Posts. Dieser Dreck sporne sie an, sie werde sich nicht klein kriegen lassen.

Die Aktion sei stellvertretend auch für viele Flüchtlingshelfer, die sich öffentlich nicht wehren könnten, sagte Göring-Eckardt in dem Youtube-Video. Sie forderte Facebook auf, gegen fremdenfeindliche Einträge vorzugehen und mahnte das Online-Netzwerk: „Sorgt endlich dafür, dass solcher Hass, dass solcher Dreck nicht mehr auf den Seiten von Facebook steht.“ Solche Einträge müssten gelöscht werden.

Zeit, sich zu wehren

Vor ihre haben sich schon andere Prominente in Posts und Videos gegen solche Beschimpfungen gewehrt – fast alle mit sehr deutlichen Worten. Aufsehen erregte auch das Video dem Duos Joko und Klaas, die alle Rassisten aufforderten, ihnen auf Facebook und Twitter nicht mehr zu folgen. (Hier der Link zu dem Video) Der Clip machte unter #mundaufmachen in den sozialen Netzwerken die Runde.

Nun kann man einwenden, man begebe sich damit auf eine niedere Stufe mit den Hass-Proleten, die solche Kommentare ins Netz stellen. Mag sein. Allerdings sind das die Worte, die diese offensichtlich etwas einfacher gestrickten Menschen verstehen. Es ist längst der Punkt erreicht, an dem verklausulierte Sprache nicht mehr weiter hilft. Es ist an der Zeit aufzustehen und Dreck als das zu bezeichnen, was er tatsächlich ist: als Dreck.