Wahlen in der Türkei – ein Überblick

Die Türken wählen am 1. November zum zweiten Mal innerhalb von fünf Monaten ein neues Parlament. In den vergangenen Wochen hat sich die Sicherheitslage zunehmend verschlechtert. Die Wahlen finden in einer schwierigen Atmosphäre statt. Fragen und Antworten zu den wichtigsten Themen rund um die Neuwahl.

15.10.21-flagge-türkei

Wie ist die Ausgangslage?

Parteien in der Türkei müssen mindestens zehn Prozent der Stimmen erhalten, um ins Parlament einziehen zu können. Die Hürde ist damit doppelt so hoch wie in Deutschland und benachteiligt kleine Parteien und Minderheiten. Die 550 Sitze der Nationalversammlung werden je nach Bevölkerungszahl auf die 81 Provinzen der Türkei verteilt. Vergeben werden sie nach einer Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht.

Mit 276 Sitzen kann eine Partei alleine regieren. Um die Verfassung zu ändern, ist eine Zweidrittelmehrheit (367 Abgeordnete) nötig. Eine 60-Prozent-Mehrheit (330 Abgeordnete) reicht allerdings aus, um das Volk in einem Referendum über eine Verfassungsänderung abstimmen zu lassen. In diesem Referendum wäre dann nur eine absolute Mehrheit nötig.

Bei der Wahl im Juni stürzte die islamisch-konservative Regierungspartei AKP von 49,8 Prozent (2011) auf 40,9 Prozent der Stimmen ab. Sie kam nur noch auf 258 Sitze. Die größte Oppositionspartei – die Mitte-Links-Partei CHP – gewann 24,6 Prozent (2011: 26 Prozent) und stellte 132 Abgeordnete.

Die ultrarechte MHP erreichte 16,3 Prozent (2011: 13 Prozent), 80 Abgeordnete zogen für sie ins Parlament ein. Die pro-kurdische HDP stellte ebenso viele Abgeordnete, obwohl sie bei ihrer ersten Parlamentswahl mit 13,1 Prozent auf weniger Stimmen kam als die MHP.

Warum gibt es überhaupt eine Neuwahl?

Die islamisch-konservative AKP verlor bei der Wahl am 7. Juni nach zwölf Jahren Alleinregierung ihre absolute Mehrheit. Eine Koalition mit der Mitte-Links Partei-CHP (25 Prozent) oder der rechtsnationalen MHP (16 Prozent) kam nicht zustande. Die pro-kurdische HDP (13 Prozent) hatte eine Zusammenarbeit mit der AKP schon vor der Wahl ausgeschlossen. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan rief letztlich Neuwahlen aus.

15.04.08-Erdogan

Welche Rolle spielt Erdogan?

Erdogan muss laut Verfassung überparteilich agieren. Die Opposition wirft dem AKP-Mitbegründer vor, dennoch Einfluss auf die Partei und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu ausgeübt und damit Koalitionsgespräche torpediert zu haben. Erdogans Ziel ist ein Präsidialsystem, das sein Amt mit mehr Kompetenzen ausstatten würde. Nur eine starke AKP-Regierung könnte die damit verbundene Verfassungsänderung im Sinne Erdogans umsetzen.

Welche Rolle spielt die pro-kurdische HDP?

Die HDP übersprang bei den Parlamentswahlen am 7. Juni die Zehnprozenthürde. Die Partei war und ist wegen der Sitzverteilung das Zünglein an der Waage. Sollte sie erneut ins Parlament einziehen, schwächt das die AKP.

15.10.12-türkei

Wie ist die Sicherheitslage vor der Wahl?

Die Lage ist angespannt. Das liegt unter anderem an dem im Juli wieder aufgeflammten Konflikt zwischen der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und der türkischen Regierung im Osten und Südosten des Landes. Dort liefern sich beide Seiten fast täglich Gefechte. Die Armee fliegt Luftangriffe auf PKK-Stellungen, die Untergrundorganisation verübt Anschläge auf Sicherheitskräfte. Hinzu kommt die Angst vor Anschlägen. Weder der Anschlag am 20. Juli in Suruc mit 34 Toten noch das Attentat am 10. Oktober in Ankara mit 102 Toten konnten von den Sicherheitskräften verhindert werden. Beide Anschläge richteten sich vor allem gegen linke und HDP-nahe Gruppen. Die pro-kurdische Partei, die immer wieder zum Ziel von Angriffen wird, sagte deshalb zahlreiche Wahlkampfveranstaltungen ab.

Was sagen die Umfragen?

Die meisten Umfragen sagen für die Wahl am kommenden Sonntag ein ähnliches Ergebnis wie im Juni voraus. Unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung sehen alle wichtigen Institute die HDP wieder über der Zehnprozentmarke. Von der AKP erwarten die Meinungsforscher ein Ergebnis, das auf Höhe der 41 Prozent vom Juni oder allenfalls marginal darüber liegen dürfte.

Und was passiert nach der Wahl?

Sollte die HDP wieder ins Parlament in Ankara einziehen, hat die AKP kaum Chancen, die absolute Mehrheit zurückzuerobern. Es sei denn, sie verbessert ihr Ergebnis deutlich, worauf Umfragen aber nicht hindeuten. Dann wäre die Ära der AKP-Alleinregierungen vorbei. Die AKP müsste versuchen, eine Koalitionsregierung zu bilden. Theoretisch ist allerdings auch möglich, dass Erdogan eine dritte Wahlrunde ausruft, falls wieder keine Koalition zustande kommen sollte.