Hunderte Menschen versuchen Nacht für Nacht, die Absperrungen zum Eurotunnel zu überwinden, um von Frankreich nach Großbritannien zu gelangen. Viele der Flüchtlinge hausen in einem Camp am Rand von Calais – unter menschenunwürdigen Bedingungen.
Am Eurotunnel
Das Warten zerrt an den Nerven. Es ist kurz vor Mitternacht, Abdelasis beobachtet schon seit über sechs Stunden den Eingang am Eurotunnel in Calais, nichts tut sich. Mehrere Züge sind auf der anderen Seite des Zaunes im gleißenden Schweinwerferlicht vorbeigerollt, doch die fuhren in Richtung Frankreich oder die Loks hatten geschlossene Güterwaggons angehängt. „Daran kann man sich nicht festhalten“, sagt Abdelasis und macht mit beiden Händen eine krallende Bewegung. Es ist eine laue Sommernacht, doch eine feuchte Kälte kriecht in die Knochen. Der Mond spiegelt sich idyllisch in einem See, doch für Romantik ist hier kein Platz. Um sich warm zu halten und die lähmende Mischung aus Anspannung und Langeweile zu vertreiben, schlendert der junge Sudanese den mit Stacheldraht bewehrten Zaun entlang, der die breite Zufahrtsstraße zum Eurotunnel von den Gleisen trennt. Immer wieder grüßt er andere Männer, die in kleinen Gruppen an der Leitplanke lehnen. Einige Frauen sind zu sehen, dick in Wollschals gehüllt, zwei von ihnen haben kleine Kinder auf dem Arm. Sie alle warten auf den richtigen Augenblick für ihren gefährlichen Sprung ins vermeintliche Glück.
Menschenjagd Weitere endlose Stunden schleppen sich dahin, als tief in der Nacht plötzlich Hektik aufkommt. Eine Einheit der französischen Polizei taucht auf und beginnt, die Flüchtlinge vom Zaun wegzutreiben. Krachend schlagen sie mit ihren Schlagstöcken auf die Leitplanken – das ist das Zeichen, die Menschenjagd beginnt. „Ein Zug!“ flüstert Abdelasis aufgeregt, die Augen nun aufgerissen wie zwei Suchscheinwerfer. Unzählige Male hat er in Gedanken durchgespielt, was nun zu tun ist. Irgendwo über den Zaun, dann so schnell wie möglich über das Schotterbett, sich in der Nähe des Zuges verstecken. Erst wenn die Waggons anrollen wird Abdelasis versuchen aufzuspringen. Doch nun zögert der junge Mann, scheint unschlüssig, wohin er laufen soll. Die Situation schlägt jetzt um, die Menschen packen ihre kleinen Bündel, beginnen zu rennen, aus der Dunkelheit sind Schreie in unzähligen Sprachen zu hören. Jetzt erst wird deutlich, wie viele Flüchtlinge sich im Schutz der Nacht zwischen den Büschen versteckt hatten. Es müssen Aberhunderte sein. Abdelasis verschwindet irgendwo in der Dunkelheit, nun ist jeder auf sich alleine gestellt. Ein dumpfes Dröhnen ist zu hören, schwillt langsam an, der etwa 200 Meter lange Zug rollt langsam in den Verladebahnhof vor dem Eurotunnel. Bremsen quietschen. Auf den offenen Waggons stehen Lastwagen, sie sind das Ziel der Flüchtlinge. Es gibt nur wenige Stellen, wo der Zaun trotz des messerscharfen Stacheldrahtes relativ gefahrlos überklettert werden kann, doch dort sind längst Polizisten postiert. Beamte fahren auf der anderen Seite mit Autos hin und her, um zu kontrollieren, dass keine Löcher in den Zaun geschnitten werden. Der Sturm auf den Zaun Im gespenstischen Licht der Scheinwerfer sind immer wieder Menschen auszumachen, die verzweifelt versuchen, über den Zaun zu klettern oder nach einem Loch suchen. Sie werden verjagt, rennen weiter und nehmen irgendwo einen neuen Anlauf. Wie lange dauert dieses bizarre Schauspiel? Eine halbe Stunde? Wahrscheinlich länger? Dann rollt der Zug langsam weiter in die Tunnelröhre Richtung Großbritannien. Hat es jemand geschafft? Keiner weiß es. Der Spuk ist so schnell vorbei, wie er gekommen ist. Am Fuß des Zauns liegt ein Schuh, in einem Wassergraben direkt daneben schwimmt eine Jacke. In diesem Jahr hat das Betreiberunternehmen Eurotunnel auf der französischen Seiten bereits fas 40 000 Versuche gezählt, die Grenze zu überqueren. Als Reaktion darauf hat die französische Regierung in diesen Tagen zahlreiche zusätzliche Polizisten nach Calais geschickt. Zusätzlich zu den bereits vor Ort befindlichen 300 Polizisten wurden weitere 120 Beamte abgestellt. Ein Eurotunnel-Sprecher wertet das „Erfolge. Er erklärte, seither gebe es „deutlich weniger Störungen“. Der Arzt Am nächsten Tag kümmert sich Jean-François Patry im Flüchtlingslager in der Nähe des Fährhafens um die Verletzten der Nacht. „Viele kommen am Morgen zu uns und lassen ihre Wunden versorgen, die sie sich bei den Fluchtversuchen in der Nacht zugezogen haben – vor allem tiefe Fleischwunden vom Stacheldraht, Verstauchungen und auch Knochenbrüche, wenn sie versuchen, von der Brücke vor dem Eurotunnel auf die fahrenden Züge zu springen“, sagt der Arzt, der in seinem Urlaub für die Organisation „Ärzte der Welt“ arbeitet. Seit Anfang Juni starben bereits vierzehn Flüchtlinge auf der französischen Seite des Ärmelkanals bei Unfällen, heißt es von offizieller Seite. Die meisten der Toten haben keine Identität, oft steht nicht einmal ihr Herkunftsland mit Sicherheit fest. Kürzlich hat die Tageszeitung „Liberation“ versucht, den Toten der vergangenen Wochen zumindest einen Namen zu geben – in den meisten Fällen vergeblich. „Ich habe schon in vielen armen Ländern bei humanitären Missionen geholfen, nun haben wir einen humanitären Notstand in unserem eigenen Land“, sagt Jean-François Patry und es gelingt ihm offensichtlich nur mit allergrößter Mühe, die menschenunwürdigen Zustände in dem Lager mit seinem Bild von einer mitfühlenden und reichen europäischen Gesellschaft in Einklang zu bringen. „Ich war völlig geschockt, als ich das erste Mal hier in Calais in das Lager kam.“ Der Dschungel Die Helfer nennen das Camp „den Dschungel“. Das abgelegene Terrain liegt am Rand eines Industriegebietes östlich des Fährterminals von Calais. Ein Blick auf die unhaltbaren Zustände in dem Lager lässt erahnen, wie groß die Verzweiflung sein muss, die diese Menschen zur Flucht aus ihrer Heimat getrieben hat. Mehrere Tausend Flüchtlinge hausen dort in den flachen Dünen zwischen mannshohem Gestrüpp. Wer keines der wenigen Zelte ergattern konnte, hat sich aus alten Latten und Plastikplanen notdürftige Unterkünfte gezimmert. Bis auf zehn Dixi-Klos gibt es praktisch keine sanitären Anlagen. Überall liegt Müll umher. In der Luft liegt ein Geruch aus Urin und verbranntem Plastik. Der französische Staat hat das Gelände vor einigen Monaten zur Verfügung gestellt, um die anfangs noch wilden Camps in der Stadt an einem Ort zu konzentrieren. Viel mehr Hilfe wurde nicht gewährt Am Rand des Terrains gibt es ein kleines Zentrum, wo Essen ausgeteilt wird und einige Duschen zur Verfügung stehen. Inzwischen werden dort auch kleine Schulklassen unterrichtet. Doch den Hilfsorganisationen ist das viel zu wenig. Sie beklagen einen humanitären Skandal, die Flüchtlinge würden praktisch ihrem Schicksal überlassen. Aber aber auch die offiziellen Stellen fühlen sich überfordert. Natacha Bouchart, Bürgermeisterin von Calais, fordert vor allem von Großbritannien mehr Engagement. Sie klagt, dass London das Problem nicht mit der notwendigen Energie angehe, weil sich die Grenze auf französischem Boden befinde. Der Schmelztigel Das Lager ist im Laufe der Zeit eine Art Schmelztiegel der globalen Krisenherde geworden. Am Rand des Geländes haben sich Flüchtlinge aus Eritrea niedergelassen, es gibt aber auch einen sudanesischen Teil, einen afghanischen oder einen syrischen. Die Menschen haben begonnen, das Zusammenleben selbst zu organisieren und es haben sich bereits erstaunliche Strukturen herausgebildet. An einer Ecke kündet ein handgemaltes Schild von einem „Shopping-Center“ – eine klapprige kleine Hütte aus Holz und Pappe. Ein Afghane verkauft dort Zigaretten, Klopapier und Getränke. Es gibt auch mehrere Kirchen, wo sich die Menschen regelmäßig zum Gebet treffen. Vom Lager aus haben die Flüchtlinge einen freien Blick auf den Zaun, der die Straße zum Fährhafen säumt. Es ist ein hellgrauer Doppelzaun, drei Meter hoch der erste, vier Meter der zweite, gekrönt von einer Lage Nato-Draht, zusätzlich gesichert von Alarmanlagen und Videokameras. Von hier sieht Calais aus, als liege die Stadt im Gazastreifen.
Der Optimist Samuel hat im Schatten des Zaunes ein Zelt aufgeschlagen. Er ist ein Mann mit freundlichem Lächeln und scheinbar ungebremstem Optimismus. Er hat aufgehört zu zählen, wie oft er schon versucht hat, auf einen Zug durch den Eurotunnel zu kommen. Aber Samuel ist überzeugt, dass ihn die Sicherheitsanlagen nicht aufhalten werden. „Ich habe einen Krieg überlebt, bin durch die Wüste gelaufen und habe das Mittelmeer überquert“, sagt der Mann aus Eritrea. „Mir wurde alles genommen, ich wurde geschlagen und eingesperrt, da lasse ich mich so kurz vor dem Ziel nicht aufhalten.“ Nach Großbritannien will er, weil dort schon ein Teil seiner Familie wohne. Wie die anderen Flüchtlinge auch, hat Samuel aber sehr unklare Vorstellungen von einem Leben auf der Insel. Erhofft er sich auf der anderen Seite des Ärmelkanals ganz einfach bessere Asylchancen und Lebensbedingungen als in Frankreich. „Ich spreche Englisch und werde einen Job finden“, sagt er überzeugt, „egal in welcher Branche, ich kehre auch die Straßen oder räume den Müll der Leute weg. Wichtig ist nur, dass ich in Frieden leben kann.“ Der Premierminister Natürlich hat er davon gehört, dass der britische Premierminister David Cameron angesichts der Krise härtere Maßnahmen zur Abwehr der Flüchtlinge angekündigt hat. Die Regierung wolle mehr Geld für die Sicherheit am Eingang des Eurotunnels, schärfere Einwanderungsgesetze und setze auf Abschreckung, sagte Cameron der BBC. Großbritannien werde illegal ins Land gekommene Migranten ausweisen, warnt der Regierungschef, „damit die Leute wissen, dass dies kein sicherer Hafen ist“. Samuel quittiert die martialischen Worte mit einem ironischen Lächeln. Schlimmer als in Libyen, wo die Polizei ihn halbtot geschlagen habe, könne es nicht werden. Wieder auf Los Dann legt er sich hin, um auf seiner dreckigen Matratze noch etwas zu schlafen. Am Abend wird er sich mit Hunderten von Flüchtlingen wieder auf den fast zweistündigen Fußmarsch vom Lager in Richtung Eurotunnel machen. Vorbei an verrammelten Fenstern und heruntergelassenen Rollläden einer kleinen Vorstadtsiedlung, im Sprint über die Autobahn, durch nasses Gras und Morast, bis die Lichter des Eurotunnels zu sehen sind. Dann heißt es wieder warten auf die Nacht und die Möglichkeit, in Todesgefahr auf einen Zug nach Großbritannien zu springen.