Eine kurze Wut-Rede

Einen Text im Furor zu schreiben, ist immer problematisch. Ständig nur distanzierter Beobachter zu bleiben, schlägt aber irgendwann auf das Gemüt. Es gibt einige Gründe, meine Beobachtungen aus einer sehr subjektiven Warte aufzuschreiben. Ausschlaggebend war in diesem Fall vielleicht ein kurzes Gespräch mit einem Polizisten, der an diesem Tag lieber mit seiner sechsjährigen Tochter ihren Geburtstag gefeiert hätte – aber er musste sich wieder einmal prügeln.

.

Nach nur wenigen hundert Meter brennt bei der Demo in Paris das erste Auto

.

Gerechtfertigte Proteste gegen das neue Gesetz

Der junge Polizist stand in einer Seitenstraße in Paris und kontrollierte die Passanten. Das heißt: Tasche auf, Jacke auf, kurzes Abtasten, immer freundlich bleiben. In einiger Entfernung näherte sich die Demonstration, die für Samstag angekündigt war. Mehrere Tausend Menschen gingen gegen soziale Ungerechtigkeit und gegen Polizeigewalt auf die Straße. Den Zorn der Franzosen erregt vor allem ein neues Sicherheitsgesetz, das etwa das Filmen von Polizisten erschweren soll – und vor allem das Posten der Bilder im Internet unter Strafe stellen kann.

Aber um die Bewertung dieses Gesetzes soll es an dieser Stelle nicht gehen. Nur so viel: es gibt sehr gute Gründe, dagegen auf die Straße zu gehen. Im Folgenden wird es aber um die Menschen drehen, die sich da auf der Straße an einem ziemlich kühlen Spätherbsttag begegnet sind.

.

.

Unbändiger Hass bricht sich die Bahn

Ein Grund, die Beobachtungen von diesem Samstag aufzuschreiben ist auch: es ist nicht das erste Mal, dass sich die Vorfälle so abgespielt haben, wie sie sich abgespielt haben. In den vergangenen zwei Jahren verging in Paris gefühlt kein Wochenende, an dem es nicht zu Krawallen kam. Mal waren sie sehr gewalttätig, mal weniger. Aber am Ende einer Kundgebung stand meistens eine Keilerei. Man könnte nun sagen, dass man sich daran gewöhnen kann – aber das geht nicht. An den Hass, der sich über die Bahn bricht, kann man sich nicht einfach gewöhnen.

Auch an diesem Samstag waren die Fronten schon im Vorfeld klar abgesteckt. Es ging um: wir gegen die. Oder: die Guten gegen die Bösen! Wobei jede Seite natürlich ganz genau weiß, wer die Guten und wer die Bösen sind. Die Feinbilder sind zementiert – und das ist wohl eines der Probleme, wo eine Lösung ansetzten könnte.

.

.

Die Fronten sind bereits geklärt

Diese Frontstellung wird schon vor der Demo deutlich. Die Polizei fährt mir Hundertschaften auf, die in voller Kampfmontur die Seitenstraßen füllen. Auf der Seite der Demonstranten stehen die üblichen Einpeitscher, die in der Regel zu einer Gewerkschaft oder einer Arbeiterorganisation gehören. Also Kampflieder werden angestimmt und er werden auch gerne Flugblätter verteilt, auf denen die Konterfeis von Marx, Engels und Lenin zu sehen sind. Das fühlt sich bisweilen an wie eine Zeitreise in die frühen 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts.

Diese Klassenkämpfer, die das „Schweinesystem“ abschaffen wollen sind aber nicht das Problem. Die zweifelhafte Orchestrierung der Demo übernimmt irgendwann immer eine kleine Gruppe, die sich am Anfang auffallend zurückhält: es sind die sogenannten Black Blocks.

.

.

Es geht nicht um Klassenkampf

Diese Gruppe probt nicht den Klassenkampf – sie suchen nur Randale. Das heißt: während der Demos gibt es keine unkoordinierten Gewaltausbrüche. Die Gewalt ist sehr genau orchestriert, die Aufgaben in den Gruppen sind sehr genau geteilt. Immer wieder werden einzelne in die Menge geschickt, die dann aus der Deckung heraus Flaschen und Steine werden. Zu sehen ist auch, dass junge Männer schwere Schlaggeräte aus einer unscheinbaren Tasche ziehen, die eine junge Frau in der Menge trägt. Damit werden dann Panzerglasscheiben an Geschäften zertrümmert. Drei oder vier kurze Schläge, die Scheine ist kaputt, das Schlagutensil wird schnell wieder weggepackt und weiter geht es. Das ist reine Zerstörungswut.

Diese Randalier bewegen sich auch sehr gekonnt im Protestzug. Das gelingt ihnen aber nur, weil ihnen der größte Teil der Demonstranten eine große Sympathie entgegenbringt – durch die sich diese Gruppe offensichtlich auch noch bestärkt sieht in ihrem Tun.

.

.

„Alle Welt hasst die Polizei“

Am Samstag etwa brannte nach nur einigen Hundert Metern das erste Auto. Polizei und Feuerwehr musste einschreiten, um den Schaden einzudämmen – und wurde von den Protestierenden attackiert. Erschütternd ist auch hier wieder der Hass, der den Beamten entgegen schlägt. Immer wieder erklangen Sprechchöre wie „Alle Welt hasst die Polizei“. Die Beamten werden geradezu entmenschlicht. Sie werden nur noch als abstrakte Verteidiger eines noch abstrakteren Systems gesehen, was es dann erlaubt, sie zu bespucken und zu verhöhnen.

.

.

An dieser Stelle muss gesagt werden, dass die französische Polizei nicht gerade zimperlich bei ihren Einsätzen ist. Statt auf Deeskalation setzt man zu oft auf Gegengewalt. Warum sich dies seit Jahrzehnten nicht ändert, ist eine Frage, die man dringend stellen muss.

Die Radikalen gewinnen die Oberhand

So viel zu den fast schon folklore-ähnlichen Gewaltausbrüchen bei den Demos in Paris. Das Problem ist, dass dadurch eigentlich gute Ideen kaputtgemacht werden. So ist der Protest gegen das neue Sicherheitsgesetzt sehr gerechtfertigt, aber er geht in der Gewalt unter. Dasselbe bei den Gilets Jaunes. Es hat viel zulange gedauert, bis die Menschen in Frankreich gegen die gesellschaftliche Ungleichheit und sozialen Probleme auf die die Straße gegangen sind. Doch auch im Fall der Gelbwesten wurde der Protest immer weiter radikalisiert und am Ende von gewaltbereiten Gruppen gekapert. Schließlich stand bei den Demozügen der Gilets Jaunes nur noch die Randale im Mittelpunkt – die eigentliche Sache war fast vergessen worden.

Auffallend ist, dass es sich beide Seiten in ihren Ecken ziemlich gut eingerichtet haben. Jeder macht den anderen für die Gewalt verantwortlich, das eigene Tun ist nur noch Notwehr. Und auf ihre Weise haben damit auch alle recht.

Worum geht es?

Die Regierung von Präsident Emmanuel Macron will mit dem geplanten Gesetz für „umfassende Sicherheit“ die Verbreitung von Foto- oder Filmaufnahmen von Polizeieinsätzen unter Strafe stellen, wenn dadurch die „körperliche oder psychische Unversehrtheit“ einzelner Beamter gefährdet wird. Mit dem Gesetz will die Regierung die Einsatzkräfte nach eigenen Angaben besser schützen.

Journalistenverbände befürchten jedoch eine massive Einschränkung der Pressefreiheit. Kritiker argumentieren zudem, dass in der Vergangenheit viele Fälle von Polizeigewalt ungestraft geblieben wären, wenn sie nicht gefilmt und die Aufnahmen im Internet verbreitet worden wären.

Angesichts der Proteste gegen das Gesetz hat die Regierungsmehrheit im Parlament inzwischen angekündigt, das umstrittene Filmverbot im Sicherheitsgesetz neu fassen zu wollen. Allerdings ist noch nicht bekannt, wie der Artikel genau verändert werden soll.

Macron wies in einem Interview mit dem vor allem von jungen Menschen genutzten Online-Medium „Brut“ den Vorwurf zurück, dass die Freiheitsrechte in Frankreich beschnitten würden. „Das ist eine große Lüge. Wir sind nicht Ungarn oder die Türkei“, sagte er. Macron verurteilte sowohl das gewaltsame Vorgehen einzelner Polizisten als auch Gewalt gegen Sicherheitskräfte.

Techno-Parade in Paris

Ausgelassene Feier in Paris. Beim Louvre trafen sich am Samstag mehrere Zehntausend junge Techno-Fans zu alljährlich stattfindenden Parade. In einer infernalischen Lautstärke dröhnten die Bässe von mehreren Lastwagen. Die Stimmung war ausgelassen und auch das Wetter spielte mit – es war ein lauer Spätsommertag.

.

19.09-techno-IMG_3191

Red Bull ist einer der Sponsoren der Parade

.

Kleine Verstimmung durch die Gilets Jaunes

Allerdings kam es zu einer kleinen Verstimmung – einige Gilets Jaunes drängten sich zwischen die Feiernden. Doch nicht alle Techno-Fans fanden das gut. „La rue est à tout le monde!“ antworteten die Gilets Jaunes.

Tommy Vaudecrane, Organisator der Parade zeigte sich nicht glücklich über den Besuch der Demonstranten, die sich zuvor zu ihrer 46. Protestwoche auf den Champs-Élysées versammelt hatten. Von einer machtvollen Bewegung war dort allerdings nichts mehr zu sehen – es handelte sich eher um einen versprengten Haufen.

.

19.09-Techo-909239D1-F8FC-4F0A-9558-6E63931611B3

Ein Demonstrant der Gilets Jaunes auf der Techno-Parade

.

Teilnehmer ohne Einladung

Tommy Vaudecrane sagte:

„Nous n’avons pas invité les Gilets jaunes. On regrette cette recuperation.”

Die Techno-Fans wollten von den Gelbwesten politisch nicht in Beschlag genommen warden. Die aber ignorierten diesen Wunsch und liefen vor der Parade her, die sich deswegen gegen 16 Uhr mit etwas Verspätung in Bewegung setzte.

.

.

Die Stimmung an dem Tag war trotz dieser kleinen Probleme dennoch sehr ausgelassen. Die Parade hatte allerdings auch ein politisches Motto. #JusticePourSteve hatten sich die Organisatoren auf ihre Fahnen geschrieben. Steve ist ein junger Mann, der im Sommer bei einem Polizeieinsatz ums Leben kam, als die Beamten ein Techno-Festival räumten.

.

 

.

Randale bei Protesten der Gelbwesten

Bei Protesten der „Gelbwesten“ ist es in Paris wieder zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen. Vor allem auf den Champs-Élysées und rund um den Triumphbogen an der Spitze der Prachtmeile kam es am Samstagvormittag zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizei. Maskierte und schwarz gekleidete Demonstranten Pflastersteine in Richtung der Polizisten. Die Polizei setzte Tränengas und Wasserwerfer ein.

Hier ein Video von den Protesten:

.

.

Ein Wohnhaus ging bei den Protesten in Flammen auf – eine Mutter und ihr Baby wurden gerettet. Das Feuer wurde nach Angaben von Innenminister Christophe Castaner vorsätzlich gelegt. Es brach in einer Bank im Erdgeschoss des Haues in der Nähe des Champs-Élysées aus und breitete sich dann aus.

Feuerwehr rettet Mutter und Kind

Die Mutter und ihr Kind befanden sich den Angaben nach im zweiten Stock und wurden von Feuerwehrleuten in Sicherheit gebracht. „Die Personen, die diese Tat begangen haben, sind weder Demonstranten noch Randalierer, sie sind Mörder“, erklärte Castaner via Twitter.

.

.

Es ist das 18. Wochenende in Folge, an dem die Bewegung gegen die Reformpolitik von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron demonstriert. Am Freitag endete der erste Teil von Macrons Bürgerdebatte, die er ins Leben gerufen hatte, um die Krise in den Griff zu kommen.

Nach diesem Tag wird deutlich, dass bei den „Gelbwesten“ die Randalierer haben das Sagen übernommen haben. Die Gilets Jaunes sind von einer sozialen Bewegung zu einem Club für Chaoten geworden

Ein Kommentar:

Die „Gelbwesten“ wollten beweisen, dass ihre Bewegung noch nicht am Ende ist. Das haben sie getan – doch mit welchem Erfolg? Es waren die Randalierer, die mitten in Paris auf den Champs-Élysée und am Triumphbogen den Ablauf bestimmt haben. Das Ziel ihrer Aktionen war schlichte Zerstörung. Dabei nahmen sie auch in Kauf, dass unbeteiligte Menschen schwer verletzt oder sogar getötet werden könnten, wie die Brandstiftung an einem Wohnhaus zeigt.

Das irritierende an dem Protestzug in Paris war aber auch, dass sich viele, anfangs friedliche Teilnehmer der Demonstration von dieser Raserei haben anstecken lassen. Anstatt den Versuch zu unternehmen, die Chaoten zurückzuhalten oder zu isolieren, wurden diese von sehr vielen Gilets Jaunes mit Applaus unterstützt.

Die Bewegung der Gelbwesten hat sich in Frankreich von Anfang an aus der Wut der Bürger genährt. Doch war dies eine begründete Wut gegen eine Politik der Eliten, die in weiten Teilen die einfachen Menschen schlicht vergessen hatte. Doch anstatt die berechtigten Anliegen in konstruktives Handeln umzusetzen, hat sich die Bewegung im Laufe der Zeit immer mehr radikalisiert. Die Wut der Bürger ist zu einem blinden Wüten der Chaoten geworden. Ein entscheidender Fehler war, dass sich die Spitze der Gilets Jaunes nie wirklich von den radikalen Kräften in der Bewegung distanziert hat. Im Gegenteil: antisemitische oder fremdenfeindliche Ausfälle wurden als Einzelfälle abgetan und auch die Randale wurde immer wieder entschuldigt. Ziemlich oft war sogar, eine klammheimliche Freude über den Aufruhr zu erahnen. Nun haben die Gilets Jaunes in Paris eine sehr hässliche Fratze gezeigt. Es wurde offensichtlich, dass die Bewegung der einfachen Bürger, die zusammen mit der Politik ein besseres und sozialeres Frankreich hätten gestalten können, tatsächlich nicht mehr existiert. Die Gilets Jaunes wurden gekapert von den Randalierern, die nun den Ton angeben – und für die ist allein die Polizei und die Justiz zuständig.

Reden reicht nicht!

Die „Gelbwesten“ wollen von Emmanuel Macron soziale Wohltaten – doch der will im Moment nur reden. Ein Kommentar:

.

IMG_E7536

Die Forderungen sind sehr klar formuliert – doch Macron zögert

.

Gelbwesten protestieren seit November

Wieder haben in Frankreich die „Gelbwesten“ protestiert und wieder macht eine Seiten die jeweils andere für die seit Monaten andauernden Krise verantwortlich. Die Fronten zwischen den Demonstranten und der Regierung sind verhärtet und keiner scheint bereit, auch nur einen kleinen Schritt auf den anderen zuzutun.

Die Hilflosigkeit Emmanuel Macrons angesichts der Proteste ist fast schon mit Händen zu greifen. Zwar hat der Präsident eine nationale Debatte über die Zukunft Frankreichs angestoßen und seine Minister fahren demonstrativ kreuz und quer durch das Land, um an Bürgerdialogen teilzunehmen.

.

.

Doch die „Gelbwesten“ wollen nicht reden, sie wollen Taten sehen. Sie wollen Steuerentlastungen, höhere Renten und sie wollen, dass die Reichen wieder stärker zur Kasse gebeten werden. Die Demonstranten fordern, dass mehr von oben nach unten umverteilt wird, um die seit Jahrzehnten immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich zu verringern. Wie ihre Forderungen finanziert werden sollen, kümmert sie allerdings wenig. Die „Gelbwesten“ wollen die Quadratur des Kreises: die Steuern verringern und die Sozialausgaben erhöhen.

.

.

Das macht es für Macron so schwierig zu handeln, weswegen er im Moment noch vor weitreichenden, konkreten Schritten zurückscheut. Er will zuerst einmal den Menschen zuhören, zeigen, dass er nicht der abgehobene „Präsident der Superreichen“ ist, wie ihm immer wieder vorgeworfen wird. Das aber wird nicht genügen, die inzwischen stark radikalisierten „Gelbwesten“ zu besänftigen.

Macron muss im April liefern

Der Präsident hat mit der von ihm angeschobenen nationalen Debatte etwas Zeit gewonnen. Im April will er die Ergebnisse seiner Gespräche dem Volk präsentieren. Spätestens dann muss Emmanuel Macron liefern. Dann muss er konkret benennen, wie er die sozialen Ungerechtigkeiten in Frankreich abbauen will. Die Erwartungen sind sehr hoch. Werden die Menschen abermals enttäuscht, stehen Frankreich und seinem Präsidenten sehr schwere Zeiten ins Haus.

„Gelbwesten“ nehmen an Europawahl teil

Die „Gelbwesten“ betonen immer wieder, dass sie eine Bewegung sind – keine Partei. Doch nun streben einige der Protagonisten ins europäische Parlament. Wollen sie für sich die Gunst der Stunde nutzen oder haben sie gemerkt, dass die Bewegung sich ändern muss, um weiter Erfolg zu haben? Der Plan trifft nicht bei allen „Gelbwesten“ auf Gegenliebe.

.

19.01.23-levasuer

.

Ingrid Levavasseur – ein Gesicht der Bewegung

Die Liste der Gilets Jaunes für die Europawahl steht. Angeführt wird die Gruppe von der bekannten „Gelbweste“ Ingrid Levavasseur, einer 31-Jährigen Krankenpflegerin aus Nordfrankreich.

„Wir wollen nicht mehr den Entscheidungen der europäischen Behörden, den Diktaten der Finanzkaste und Technokraten unterworfen sein, die das Wesentliche vergessen haben: Menschen, Solidarität und den Planeten“, heißt es in einer Mitteilung, die mehreren französischen Medien vorliegt. Die aktuelle Liste bestehe aus zehn Namen, bis Mitte Februar sollen noch 69 weitere hinzukommen.

.

.

Spekulationen über den Weg der Gelbwesten

Darüber, dass die „Gelbwesten“ bei der Europawahl antreten könnten, wird in Frankreich schon länger spekuliert. Die Bewegung, die in sozialen Netzwerken entstand, ist jedoch zersplittert und hat keinen Anführer. Die Krankenpflegerin Levavasseur engagierte sich von Anfang an in ihrer Region bei den Protesten – schnell wurde in Frankreich das Fernsehen auf sie aufmerksam. Der Sender BFMTV bot ihr eine Position als Kommentatorin in einer Sendung an – die 31-Jährige lehnte schließlich ab, weil sie nach eigenen Angaben massiv bedroht wurde. „Ihr könnt euch nicht einmal vorstellen, welchen Schaden ihr Menschen zufügt, die für euch kämpfen“, schrieb sie auf Facebook.

Nicht alle Gelbwesten finden Levavasseur gut

Innerhalb der „Gelbwesten“ gehört Levavasseur eher zum gemäßigten Flügel der Bewegung; anders als etwa Eric Drouet, der gerne provoziert, bei Protesten schon mehrfach festgenommen wurde und sehr aktiv in den sozialen Netzwerken ist. Auch „Gelbweste“ Maxime Nicolle, der sich „Fly Rider“ nennt, ist vor allem über das Internet in Frankreich populär geworden – er warf Levavasseur auf Facebook nun vor, ihre Anhänger zu verraten. Die Europawahlen seien Teil des Systems, das die „Gelbwesten“ eigentlich bekämpfen wollten. Auch auf ihrer Facebook-Seite wird Levavasseur für ihr Vorhaben von Nutzern scharf angegriffen. Indem sie bei der Europawahl antrete, spiele sie Macrons Spiel und das seiner Vasallen mit, schrieb einer. „Sie spalten die Bewegung und erfreuen die Regierung.“

.

.

Das scheint auch die Regierung in Paris so zu sehen. Der französische Regierungssprecher Benjamin Griveaux begrüßte den Vorstoß der „Gelbwesten“. Er sei froh, dass die Bewegung nun mit konkreten Vorschlägen antreten wolle, über die Wähler abstimmen können. Doch ist das ein vergiftetes Lob. Beobachter gehen davon aus, dass vor allem die extremen rechten und linken Parteien Stimmen verlieren, sollten die „Gelbwesten“ an der Wahl teilnehmen. Emmanuel Macron, den die Bewegung in eine tiefe Krise gestürzt hat, wäre in diesem Fall der lachende Dritte.

Macron stellt sich den Fragen der Bürgermeister

Emmanuel Macron macht Ernst. Für seine erste, große Bürgerdebatte hat sich der französische Präsident in die Provinz begeben. In Grand Bourgtheroulde, einer kleinen Stadt in der Normandie, zeigt er in einer Turnhalle, gefüllt mit 600 erwartungsvollen Bürgermeistern vor allem eines: Demut.

.

19.01-macron-dialog

.

Emmanuel Macron, der getriebene Präsident

Getrieben von den wochenlangen, teils gewaltsamen Protesten der „Gelbwesten“, räumt Macron Fehler ein und konstatiert, dass sich Frankreichs Mittelschicht in einer Krise befinde. Das allerdings nicht keine wirklich neue Erkenntnis. Den Begriff „sozialer Bruch“ hatte bereits der frühere Staatschef Jacques Chirac in den 1990er-Jahren geprägt. Besonders die Mittelschicht würde die Rechnung für die Krisen der vergangenen Jahre zahlen, sagte Macron.

.

.

Bei der Debatte können Bürger Vorschläge zu den Themen Steuern, ökologischer Übergang, Demokratie und Migration sowie Staatsorganisation machen. Die Debatte soll unter der Schirmherrschaft der Bürgermeister stehen. Daraus sollen dann konkrete Entscheidungen folgen.

.

.

Macron hatte in einem Brief an die Franzosen knapp drei Dutzend Einzelfragen aufgelistet. „Es gibt keine Tabus“, erklärte er nun bei der Auftaktveranstaltung der Debatte. Zuvor hatten ihm Linke vorgeworfen, bestimmte Themen auszuklammern.

.

.

Im Streit um die Vermögensteuer signalisierte Macron Gesprächsbereitschaft. Die Frage sei für ihn „weder ein Tabu noch ein Totem“, sagte der sozialliberale Staatschef. Die Steuer war mit dem Budgetgesetz 2018 weitgehend abgeschafft worden – diese Reform hatte Macron den Ruf im Land eingebracht, ein „Präsident der Reichen“ zu sein. Eine Wiedereinführung hatte er mehrfach ausgeschlossen.

Ein Beschwerdebuch der Bürgermeister

Macron wurde von den Bürgermeistern in einer Turnhalle in Grand Bourgtheroulde empfangen. Der Bürgermeister der Gemeinde, Vincent Martin, hieß den Präsidenten willkommen. Er überreichte Macron ein Notizbuch mit Beschwerden seiner Einwohner. Anschließend konnten die Bürgermeister dem Präsidenten Fragen stellen und ihre Sorgen vortragen.

.

.

Vor der Turnhalle demonstrierten einige „Gelbwesten“, von denen sehr viele von dem „Bürgerdialog“ sehr wenig halten. Es sei eine Nebelkerze, heißt es in den sozialen Netzwerken, der Präsident wollte nur Zeit gewinnen. Einer aktuellen Befragung des Senders BFMTV zufolge wollen sich 40 Prozent der Franzosen an der „nationalen Debatte“ beteiligen.

Macron will Wut in Lösungen verwandeln

Lange hatte Emmanuel Macron geschwiegen. Doch die Bewegung der „Gelbwesten“ stürzte ihn eine tiefe Krise. Nun hat er reagiert und will eine Art „Bürgerdialog“ in Gang setzen. Zum Einstieg schrieb er einen Brief an alle Franzosen. Sein Ziel: „Wut in Lösungen“ verwandeln. Ob das die „Gilets Jaunes“ das auch so sehen ist fraglich.

.

19.01-macron

.

Ein neuer Vertrag für die Nation

Über 35 Themen will der französische Präsident mit seinem Volk diskutieren – von Steuern über Demokratie und Umweltschutz bis hin zur Einwanderung. Die Vorschläge der Bürger sollten helfen, „einen neuen Vertrag für die Nation“ zu entwerfen und die Arbeit von Regierung und Parlament sowie Frankreichs Positionen in Europa und international zu „strukturieren“.

.

.

„Verbotene Fragen“ gebe es bei dem Dialog nicht, betonte der Präsident. Allerdings gebe es Rote Linien. So könne etwa das Recht auf Asyl nicht in Frage gestellt werden, auch die teilweise Streichung der Vermögensteuer werde nicht zurückgenommen. Dies ist jedoch eine der Forderungen der „Gelbwesten“-Bewegung.

Macron duldet kein Gewalt

Macron kündigte an, einen Monat nach dem Ende des „Bürgerdialogs“ Mitte März einen Bericht über das Ergebnis vorzulegen. Der Präsident plant eine Rundreise durch Frankreich mit zahlreichen Treffen mit Lokalpolitikern.

Eines machte Macron in dem Brief ebenfalls sehr klar: Er werde keine Gewalt dulden. Zu häufig ist es in den vergangenen Wochen zu schweren Ausschreitungen bei den Demonstrationen der „Gelbwesten“ gekommen.

.

.

Die „Gelbwesten“-Bewegung setzt der Regierung Macron seit November zu. Mit ihren landesweiten Kundgebungen demonstriert sie gegen Steuer- und Preiserhöhungen sowie für eine verbesserte Kaufkraft der Franzosen.

Viele der „Gelbwesten“ haben sich allerdings bereits ihre Meinung zu dem Bürgerdialog gebildet. Man wissen doch schon jetzt, was dabei rauskomme, heißt es aus ihren Reihen. Die Franzosen würden sich ihre Meinung schon selbst bilden – auf der Straße!