Gruseliges am Place de la République

Der Place de la République im Herzen von Paris ist ein besonderer Ort. Er ist das Herz der französischen Republik – und der Stadtpunkt oder das Ziel zahlreicher Demonstrationen. Manchmal wird er sogar von Zombies heimgesucht.

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Ein Zombie beim Imponiergehabe. Die Teilnehmer geben sich alle Mühe möglichst erschreckend zu wirken.

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Tanz der Untoten in Paris

Auf dem Place de la République ist immer etwas los – und wenn nichts los ist, dann sind die Skate-Boarder vor Ort. An einer kleinen Rampe zeigen sie immer wieder ihre Tricks. Doch dieses Mal bekommen sie Konkurrenz. Beim 10. Zombie-Walk in Paris findet eine Invasion der Untoten statt – und natürlich ist der zentrale Platz in der Stadt ein guter Ausgangspunkt für das Event.

Übrigens: Der Platz, früher «Place du Château-d’Eau», hat seit 1879 seinen Namen, als seit 1878 im Pariser Stadtrat das Projekt zur Errichtung einer Statue der Republik zu Ehren des Republikanismus, der politischen Ideologie und des Freiheitskonzepts beraten wurde. Das Denkmal wurde 1879 bei der Fonderie Thiébaut Frères in Auftrag gegeben und 1883 eingeweiht.

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Um die Mittagszeit sammeln sich immer mehr der verkleideten jungen Menschen und beginnen sich zu schminken. Manche begnügen sich mit einigen kurzen Make-Up-Strichen, andere legen ziemlich Hand an. Da wird gekleistert, gezupft und modelliert. Dem Einfallsreichtum sind dabei keine Grenzen gesetzt.

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Das Schminken nimmt bisweilen Stunden in Anspruch

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Kurioses Aufeinandertreffen mit den Gelbwesten

Am Nachmittag schließlich haben sich rund 50 der Untoten auf dem Place de la République zusammengerottet und treiben ihr Unwesen. Allerdings ist etwa die doppelte Zahl an Fotografen unterwegs, für die die Zombies nur allzu gerne posieren.

Wie Wikipedia weiß, stammt der Zombie Walk natürlich aus den USA. Das erste Treffen dieser Art fand am 19. August 2001 im US-amerikanischen Sacramento statt. In Deutschland sind in der Vergangenheit immer wieder Zombie Walks von den Behörden verboten worden – die Untoten hatten es einfach vergessen, die Veranstaltung vorher angemeldet. Und der deutsche Amtsschimmel kennt sogar vor dem Jenseits kein Pardon.

In Paris am Place de la République geht aber alles glatt über die Bühne, doch am Nachmittag kommt es zu einem kuriosen Aufeinandertreffen. Eine versprengter Trupp von Gilets Jaunes zieht vorbei und mischt sich kurz mit den Zombies. Vergleiche jeglicher Art verbieten sich in diesem Fall allerdings.

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Gelbweste meets Zombie

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Politischer Protest der Kurden

Am Nachmittag wird es auf dem Platz noch enger. Mehrere Hundert Kurden protestieren gegen den Einmarsch der Türkei in Syrien. Sie verteilen Transparente und schwenken Fahnen, auf denen der türkische Präsident Erdogan geschmäht wird. Die Polizei hat die Straßen um den Platz gesperrt, hält sich aber sehr dezent im Hintergrund.

Die Kurden sind äußert gut organisiert. Hunderte Fahnen werden verteilt, viele mit dem Porträt des PKK-Führers Özalan. Auch einige Franzosen haben sich eingefunden, um dafür zu demonstrieren, das Volk der Kurden in ihrem Kampf gegen die türkische Armee nicht allein zu lassen.

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Demo der Kurden gegen den Krieg in Syrien

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Zwischen den Protestierenden haben sich einige Händler breit gemacht, die in fahrbaren Garküchen ihre Spezialitäten anbieten. Nicht fehlen darf natürlich die traditionelle Merguez, eine scharf gewürzte Hackfleisch-Bratwurst aus der maghrebinischen Küche. Sie wird bei allen Treffen, Zusammenkünften und Festen gegessen.

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Das kulinarische Angebot ist durchaus sehens- und essenwert

Eine „Friedensdemo“ als Provokation

Alle sind entsetzt: Türken und Kurden, die Verbände, die Politiker. Dabei waren die Eskalation am Rande der AYTK-Demos – unter anderm in Stuttgart – vorhersehbar. Die Bilanz in Stuttgart: Mehr als 50 verletzte Polizisten, vier von ihnen sind vorübergehend dienstunfähig, und 26 Festnahmen

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Nicht alle Demos von Türken und Kurden in Stuttgart laufen friedlich ab.

Vorhersehbare Eskalation

Alle sind entsetzt: Türken und Kurden, die Verbände, die Politiker. Dabei war die Eskalation am Sonntag in Stuttgart vorhersehbar. „Wer dazu aufruft, eine Demo zu sabotieren, muss sich nicht wundern, wenn das einige als Aufforderung zu Gewalt interpretieren“, sagt Gökay Sofuoglu, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland.

In mehreren deutschen Städten hatte die kaum bekannte Gruppe AYTK (Europäisches Neue-Türken-Komitee) sogenannte Friedensmärsche organisiert. Viele Kurden fühlten sich durch den Aufruf provoziert. Ein Bündnis anderer Migrantenorganisationen, darunter Kurden und Armenier, wirft der AYTK vor, nationalistisch zu sein und der türkischen islamisch-konservativen Regierungspartei AKP nahezustehen. Daher wurde dazu aufgerufen, sich dem „Friedensmarsch“ auch in Stuttgart entgegenzustellen. Als sich die Demos näherten, flogen Pflastersteine und Böller, Mülltonnen wurden umgeworfen. Die Bilanz: Mehr als 50 verletzte Polizisten, vier von ihnen sind vorübergehend dienstunfähig, und 26 Festnahmen. Auch in anderen deutschen Städten wurde demonstriert, etwa in Köln und Frankfurt. Dort gab es aber offenbar keine größeren Zwischenfälle.

Eine aufgeheizte Stimmung

Sofuoglu sagt: „Anfangs war alles friedlich, aber dann wurde die Stimmung immer aufgeheizter.“ Schließlich verlor die Polizei, die vorgewarnt war und sich vorbereitet hatte, die Kontrolle über die Lage. Auch Turan Tekin, Sprecher der Kurdischen Gemeinde Stuttgart, kritisiert den Aufruf zur Gegendemonstration: „Ich habe geahnt, dass das aus dem Ruder laufen kann.“ Ihn ärgert, dass die Randale den Kurden in die Schuhe geschoben werde. Seine Beobachtung: „Zwischen den friedlichen Demonstranten liefen auch Leute aus der autonomen Szene und linke Krawallmacher.“

Der seit Langem blutig ausgetragene Konflikt mit den Kurden in der Türkei wird immer wieder auch in Deutschland spürbar. Schon in der Vergangenheit kam es in   Stuttgart am Rande von Demonstrationen zu kleineren Ausschreitungen.

Der lange andauernde Kurden-Konflikt

Der Konflikt zwischen Türken und Kurden geht bis in die Zeit des Ersten Weltkrieges zurück. Damals brach das Osmanische Reich zusammen, doch anstatt einen eigenen Staat zu bekommen, wurde das Gebiet der Kurden zwischen der Türkei, Syrien, Irak, Iran und der Sowjetunion aufgeteilt. Aber viele Kurden gaben den Wunsch nach Souveränität nie auf – und brachten ihn als „Gastarbeiter“ auch mit in die Bundesrepublik. Inzwischen leben hier laut der Kurdischen Gemeinde Deutschland rund eine Million Menschen kurdischer Abstammung. Die meisten stammen aus der Türkei. So werden die Konflikte auch nach Deutschland importiert, wo fast zwei Millionen Türken leben. Hinzu kommen Türkischstämmige, die deutsche Staatsangehörige wurden.

Die türkischen und kurdischen Verbände in Deutschland kämpfen seit Jahren gegen die Radikalisierung vor allem ihrer jüngeren Mitglieder. Aus diesem Grund lässt Ali Ertan Toprak auch keine Zweifel aufkommen. „Was da in Stuttgart passiert ist, muss verurteilt und von der Polizei verfolgt werden“, sagt der Vorsitzende der Kurdischen Gemeinde Deutschlands. Besonders bitter für ihn sei, dass gerade die Kurden, die in ihrer Heimat unter den Repressionen des Staates leiden müssten, dort ihre Meinung nicht frei äußern könnten. Aus diesem Grund sollten sie das Demonstrationsrecht – auch für Andersdenkende – besonders hoch schätzen, klagt Toprak. Allerdings sei die Frustration aufseiten der jungen Kurden enorm. „Wegen der Flüchtlingskrise sieht die EU weg, wenn die türkische Regierung brutal gegen die Kurden in der Türkei vorgeht“, sagt er.

Die Polarisierung beginnt mit Erdogan

Auch Gökay Sofuoglu ist überzeugt, dass die Polarisierung in Deutschland begonnen habe, als Recep Tayyip Erdogan Staatspräsident wurde. Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde beobachtet schon seit einiger Zeit, dass sich zwei Gruppierungen gebildet hätten. Auf der einen Seite stünden die sogenannten Osmanen in Deutschland. Sie sehen sich selbst als Verteidiger des Türkentums. Auf kurdischer Seite hätten sich die Apo-Anhänger organisiert. „Apo“ ist die Abkürzung für Abdullah Öcalan, den inhaftierten Führer der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Beide Gruppen seien zwar noch immer in der Minderheit, aber sehr gewaltbereit.

Ein Integrationsproblem der Jugendlichen sieht Sofuoglu, im Hauptberuf Sozialarbeiter, nicht. „Diese jungen Leute sind integriert, sie sind in Deutschland geboren, haben einen Job und sind auf ihre Weise Teile der Gesellschaft.“ Was diese jungen Kurden und Türken suchen würden, sei eine Idee, mit der sie sich identifizieren könnten. Sofuoglu vergleicht diese Entwicklung mit der Radikalisierung in salafistischen Kreisen in den vergangenen Jahren. Auch dort habe man lange ignoriert, dass es immer mehr Jugendliche in Deutschland gebe, die bereit sind, die frühislamischen Ordnungsvorstellungen auch mit Gewalt durchzusetzen.

Gemeinsame Erklärung von Kurden und Türken

Angesichts dieser bedenklichen Entwicklung hatten die Türkische Gemeinde und die Kurdische Gemeinde in Deutschland schon Ende vergangenen Jahres Türken und Kurden in einer gemeinsamen Erklärung dazu aufgerufen, den Konflikt nicht nach Deutschland zu tragen. „Politische Probleme müssen politisch gelöst werden. Gewalt jeglicher Art kann keine akzeptable Lösung bei Konflikten sein, weder in der Türkei noch in Deutschland“, heißt es in den Aufruf. Gökay Sofuoglu fordert, dass sich Parteien und Verbände gerade in dieser spannungsgeladenen  Situation sehr deutlich von der Gewalt distanzieren. „Wir brauchen Stimmen der Vernunft, die die Emotionen kontrollieren.“ Diesen Satz sagt Sofuoglu auch mit Blick auf die bevorstehende Fußball-Europameisterschaft. Er befürchtet, dass es im Sommer deswegen „noch einige Probleme“ geben könnte.

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Und hier noch ein Kommentar:

Drohen jetzt Wasserwerfer?

Die Auseinandersetzungen zwischen Kurden und Türken werden nicht nur in Stuttgart immer gewalttätiger. Die Verbände der verfeindeten Gruppen müssen jetzt handeln. Sonst muss man über ein Verbot der Kundgebungen nachdenken, kommentiert Redakteur Knut Krohn.

Kommen in Stuttgart bei Demonstrationen bald wieder Wasserwerfer zum Einsatz? Es wäre ein fatales Zeichen. Die traumatischen Ereignisse bei der Räumung des Schlossparks während der S-21-Demos haften der ganzen Stadt nach Jahren noch tief im Gedächtnis. Es hat zwei Gründe, dass die Polizei angesichts der gewalttätigen Auseinandersetzungen vom Sonntag zwischen Türken und Kurden dennoch daran denkt, zu diesem Mittel zu greifen. Zum einen zeigt es die Hilflosigkeit der Sicherheitskräfte. Sie finden keine passende Antwort auf die Randale. Auf der anderen Seite ist es ein Zeichen für die Radikalisierung der rivalisierenden Gruppen. Kaum eine Demonstration für oder gegen die Ankaras Politik geht ohne Prügeleien ab. Angesichts der über 50 verletzten Beamten ist es verständlich, dass die Polizei daran denkt, aufzurüsten.

Doch das ist keine Lösung – die können nur die türkischen und kurdischen Verbände selbst liefern. Zu lange haben beide Seiten angesichts der zunehmenden Gewaltbereitschaft ihrer Mitglieder geschwiegen oder sie in manchen Fällen sogar stillschweigend toleriert. Das muss aufhören. Beide Seiten müssen einen konstruktiven Dialog beginnen. Der Hinweis auf die verfahrenen Zustände in der Türkei kann als Erklärung dienen, eine Entschuldigung für die Randale in Deutschland ist er nicht.

 

Die Ergebnisse des EU-Türkei-Gipfels

Auf dem ersten EU-Türkei-Gipfel seit elf Jahren haben beide Seiten einen gemeinsamen Aktionsplan zur Flüchtlingskrise in Kraft gesetzt. Dieser fordert die Türkei zu einem verstärkten Grenz- und Küstenschutz sowie zum Kampf gegen Schlepper auf, um die ungesteuerte Einwanderung in die EU zu stoppen. In der Erklärung des Gipfels wurden der Türkei eine Reihe von Zugeständnissen gemacht.

Ein Überblick:

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 Hier der Link zu den Gipfelergebnissen als pdf

Neues Beitrittskapitel

In den seit 2005 laufenden Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wurden bisher 14 von 35 sogenannter Verhandlungskapitel eröffnet, in denen die EU-Standards für eine Mitgliedschaft nach Themenbereichen festgelegt sind. Der Gipfel beschloss, zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder einen neuen Bereich anzugehen: Kapitel 17 über die Wirtschafts- und Währungspolitik soll am 14. Dezember eröffnet werden. Zur Kenntnis nehmen EU und Türkei, dass die EU-Kommission im ersten Quartal 2016 die Vorarbeiten zur Eröffnung „einer Reihe“ von weiteren Kapiteln abschließen will. Eine Vorentscheidung stelle dies aber nicht dar.

 Visa-Liberalisierung für Flüchtlingsrücknahme

Ein bereits vereinbartes Rückübernahme-Abkommen für Flüchtlinge soll im Juni 2016 vollständig in Kraft gesetzt werden. Damit könnte die EU Flüchtlinge aus Drittstaaten in die Türkei abschieben. Die EU-Kommission soll im Gegenzug im Herbst einen Fortschrittsbericht zur Visa-Liberalisierung vorlegen. Seien alle Voraussetzungen erfüllt, solle „spätestens im Oktober 2016“ im Schengen-Gebiet die Visumspflicht für türkische Bürger aufgehoben werden.

 Unterstützung für Flüchtlinge in der Türkei

Um rund 2,2 Millionen in der Türkei lebenden Flüchtlingen aus Syrien bessere Lebensperspektiven zu geben, wollen die Europäer „einen ersten Betrag von drei Milliarden Euro“ bereitstellen. Das Geld soll in konkrete Projekte wie den Bau von Schulen fließen. Offen ist die Finanzierung. Der Plan, dass die Mitgliedstaaten 2,5 Milliarden Euro aus ihren nationalen Kassen beisteuern, stößt weiter bei mehreren EU-Regierungen auf Widerstand. Mit der Frage sollen sich nun die EU-Finanzminister bei ihrem Treffen Anfang kommender Woche befassen.

 Umsiedlung von Flüchtlingen von der Türkei in die EU

Bei der möglichen Umsiedlung von Flüchtlingen aus der Türkei in die EU wird nur auf die „bestehenden Regelungen und Programme“ verwiesen – in der EU gibt es aus dem Sommer eine Vereinbarung zur Aufnahme von gut 20.000 Menschen insbesondere aus Nachbarstaaten Syriens. Vor dem Gipfel kam Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) aber mit Kollegen mehrerer EU-Länder zusammen, um auch über einen Ausbau der legalen Migration zu sprechen. Um konkrete Aufnahmekontingente ging es Merkel zufolge noch nicht. Die EU-Kommission soll demnach bis zum EU-Gipfel am 17. Dezember Vorschläge unterbreiten.

Regelmäßige Gipfel

Beide Seiten einigen sich darauf, „dass regelmäßig – zweimal im Jahr – Gipfeltreffen“ stattfinden. Auch Dialog und Zusammenarbeit zu Außen- und Sicherheitspolitik sowie das Vorgehen gegen Terrorismus sollten verbessert werden. Hierzu soll es regelmäßig Treffen auf Ministerebene und mit der EU-Kommission geben. Ende 2016 sollen zudem Gespräche über einen Ausbau der Zollunion aufgenommen werden.

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 ERGÄNZUNG:

Die EU-Kommission wird Anfang kommenden Jahres fünf Verhandlungskapitel für die Beitrittsgespräche mit der Türkei vorbereiten. Das sicherte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu nach dem EU-Türkei-Sondergipfel schriftlich zu.Am 14. Dezember soll – wie bereits vereinbart –  das Verhandlungskapitel 17 über Wirtschaft und Finanzen geöffnet werden.
Juncker sicherte nun zu, dass die Verhandlungsabschnitte 15 über Energie, 23 über Justiz, Grundrechte und Rechtstaatlichkeit, 24 über Justiz, Freiheit und Sicherheit, 26 über Ausbildung und Kultur und 31 über Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik vorbereitet werden.
Das Verhandlungsprogramm mit dem EU-Kandidatenland ist in 35 Abschnitte eingeteilt – erst ein Kapitel wurde vorläufig geschlossen.

Wahlen in der Türkei – ein Überblick

Die Türken wählen am 1. November zum zweiten Mal innerhalb von fünf Monaten ein neues Parlament. In den vergangenen Wochen hat sich die Sicherheitslage zunehmend verschlechtert. Die Wahlen finden in einer schwierigen Atmosphäre statt. Fragen und Antworten zu den wichtigsten Themen rund um die Neuwahl.

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Wie ist die Ausgangslage?

Parteien in der Türkei müssen mindestens zehn Prozent der Stimmen erhalten, um ins Parlament einziehen zu können. Die Hürde ist damit doppelt so hoch wie in Deutschland und benachteiligt kleine Parteien und Minderheiten. Die 550 Sitze der Nationalversammlung werden je nach Bevölkerungszahl auf die 81 Provinzen der Türkei verteilt. Vergeben werden sie nach einer Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht.

Mit 276 Sitzen kann eine Partei alleine regieren. Um die Verfassung zu ändern, ist eine Zweidrittelmehrheit (367 Abgeordnete) nötig. Eine 60-Prozent-Mehrheit (330 Abgeordnete) reicht allerdings aus, um das Volk in einem Referendum über eine Verfassungsänderung abstimmen zu lassen. In diesem Referendum wäre dann nur eine absolute Mehrheit nötig.

Bei der Wahl im Juni stürzte die islamisch-konservative Regierungspartei AKP von 49,8 Prozent (2011) auf 40,9 Prozent der Stimmen ab. Sie kam nur noch auf 258 Sitze. Die größte Oppositionspartei – die Mitte-Links-Partei CHP – gewann 24,6 Prozent (2011: 26 Prozent) und stellte 132 Abgeordnete.

Die ultrarechte MHP erreichte 16,3 Prozent (2011: 13 Prozent), 80 Abgeordnete zogen für sie ins Parlament ein. Die pro-kurdische HDP stellte ebenso viele Abgeordnete, obwohl sie bei ihrer ersten Parlamentswahl mit 13,1 Prozent auf weniger Stimmen kam als die MHP.

Warum gibt es überhaupt eine Neuwahl?

Die islamisch-konservative AKP verlor bei der Wahl am 7. Juni nach zwölf Jahren Alleinregierung ihre absolute Mehrheit. Eine Koalition mit der Mitte-Links Partei-CHP (25 Prozent) oder der rechtsnationalen MHP (16 Prozent) kam nicht zustande. Die pro-kurdische HDP (13 Prozent) hatte eine Zusammenarbeit mit der AKP schon vor der Wahl ausgeschlossen. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan rief letztlich Neuwahlen aus.

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Welche Rolle spielt Erdogan?

Erdogan muss laut Verfassung überparteilich agieren. Die Opposition wirft dem AKP-Mitbegründer vor, dennoch Einfluss auf die Partei und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu ausgeübt und damit Koalitionsgespräche torpediert zu haben. Erdogans Ziel ist ein Präsidialsystem, das sein Amt mit mehr Kompetenzen ausstatten würde. Nur eine starke AKP-Regierung könnte die damit verbundene Verfassungsänderung im Sinne Erdogans umsetzen.

Welche Rolle spielt die pro-kurdische HDP?

Die HDP übersprang bei den Parlamentswahlen am 7. Juni die Zehnprozenthürde. Die Partei war und ist wegen der Sitzverteilung das Zünglein an der Waage. Sollte sie erneut ins Parlament einziehen, schwächt das die AKP.

15.10.12-türkei

Wie ist die Sicherheitslage vor der Wahl?

Die Lage ist angespannt. Das liegt unter anderem an dem im Juli wieder aufgeflammten Konflikt zwischen der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und der türkischen Regierung im Osten und Südosten des Landes. Dort liefern sich beide Seiten fast täglich Gefechte. Die Armee fliegt Luftangriffe auf PKK-Stellungen, die Untergrundorganisation verübt Anschläge auf Sicherheitskräfte. Hinzu kommt die Angst vor Anschlägen. Weder der Anschlag am 20. Juli in Suruc mit 34 Toten noch das Attentat am 10. Oktober in Ankara mit 102 Toten konnten von den Sicherheitskräften verhindert werden. Beide Anschläge richteten sich vor allem gegen linke und HDP-nahe Gruppen. Die pro-kurdische Partei, die immer wieder zum Ziel von Angriffen wird, sagte deshalb zahlreiche Wahlkampfveranstaltungen ab.

Was sagen die Umfragen?

Die meisten Umfragen sagen für die Wahl am kommenden Sonntag ein ähnliches Ergebnis wie im Juni voraus. Unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung sehen alle wichtigen Institute die HDP wieder über der Zehnprozentmarke. Von der AKP erwarten die Meinungsforscher ein Ergebnis, das auf Höhe der 41 Prozent vom Juni oder allenfalls marginal darüber liegen dürfte.

Und was passiert nach der Wahl?

Sollte die HDP wieder ins Parlament in Ankara einziehen, hat die AKP kaum Chancen, die absolute Mehrheit zurückzuerobern. Es sei denn, sie verbessert ihr Ergebnis deutlich, worauf Umfragen aber nicht hindeuten. Dann wäre die Ära der AKP-Alleinregierungen vorbei. Die AKP müsste versuchen, eine Koalitionsregierung zu bilden. Theoretisch ist allerdings auch möglich, dass Erdogan eine dritte Wahlrunde ausruft, falls wieder keine Koalition zustande kommen sollte.

Özdemir warnt vor einem Bürgerkrieg in der Türkei

Cem Özdemir gelingt ein Besuch in der umkämpften kurdische Stadt Cizre. In der lange abgeriegelten Stadt fanden in den vergangenen Tagen schwere Kämpfe statt.

Özdemir – hier bei einem Besuch im Nordirak – kritisiert die türkische Regierung.

Das Ende der Stabilität

In der Türkei bestehe angesichts der eskalierenden Gewalt die Gefahr eines Bürgerkrieges. Das sagte  Grünen-Chef Cem Özdemir nach dem Besuch in der umkämpften Stadt Cizre.  „Man muss aufpassen, dass es sich nicht in diese Richtung entwickelt. Von politischer Stabilität kann in der Türkei längst keine Rede mehr sein.“ In Cizre war es in den vergangenen Tagen zu schweren Zusammenstößen zwischen  Sicherheitskräften und Kämpfern der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK gekommen. Ausgehsperren wurden verhängt und Sicherheitskräfte riegelten die Stadt von der Außenwelt ab. Özdemir zeigte sich sichtlich beeindruck durch die Zerstörungen in Cizre,  „eine völlig neue Dimension erreicht haben“. Man könne nur erahnen, mit welcher Brutalität die Angriffe geführt worden seien, sagte er. Özdemir forderte die  Regierung und die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK zu einer sofortigen Waffenruhe auf. „Der Ort zur Lösung der kurdischen Frage ist das Parlament“, so der Politiker, der auf seiner Reise von der  Fraktionsvorsitzenden der Grünen im Europaparlament, Rebecca Harms begleitet wurde.

Kritik an Erdogan

Özdemir äußert sich allerdings  skeptisch, dass die Verantwortlichen in Ankara den  Verhandlungsweg einschlagen werden.   Er wirft  Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan vor, auf eine „innenpolitische Verschärfung“ der Lage gesetzt zu haben. Grund sei, dass Erdogans islamisch-konservative AKP bei der Parlamentswahl im Juni die von ihm gewünschte verfassungsändernde Mehrheit verfehlt habe. „Er hat das Land ohne Not in eine Krise gestürzt.“ Nach dem Scheitern von Koalitionsverhandlungen hat Erdogan für den 1. November Neuwahlen ausgerufen.

An Ansehen verloren

Durch das Verhalten des Präsidenten habe die Türkei in der internationalen Staatengemeinschaft an Ansehen verloren. Der Westen müsse versuchen, seinen Einfluss auf Ankara geltend zu machen. „Als Nato-Mitglied und EU-Beitrittskandidat muss die Türkei erkennen, dass sich das Land an demokratische Grundsätze halten muss“, erklärt Özdemir. Rücke Ankara nicht von seinem Konfrontationskurs mit den Kurden ab,  sollte der Westen prüfen, ob das G-20-Treffen im November in Antalya stattfinden soll. Das wäre, so Özdemir, ein deutliches Signal an Erdogan.

Die Türkei am Abgrund

Der türkische Präsident Erdogan treibt sein Land an den Rand eines Bürgerkrieges. Der Westen hält sich mit Kritik auffallend zurück.

15.04.08-Erdogan

Der Machtmensch

Recep Tayyip Erdogan ist ein Machtpolitiker allererster Güte. Das ist nicht verwerflich, davon gibt es in der Riege der europäischen Demokraten – zu denen sich der türkische Präsident noch immer zählt –  sehr viele. Allerdings: keiner betreibt sein Geschäft in derart pervertierter Form wie Erdogan. Er ist zerfressen von  Machtgier und bereit, für seine Ziele den   Frieden im eigenen Land zu opfern.

Ein politischer Amoklauf

Dass die Türkei in diesen Tagen ins Chaos treibt, ist die Schuld des Präsidenten. Auslöser für seinen politischen Amoklauf sind die Parlamentswahlen im vergangenen Juni. Damals verlor seine Partei, die islamisch-konservative AKP,  die absolute Mehrheit. Grund dafür war der Erfolg der pro-kurdischen HDP, die mit mehr als zehn Prozent der Stimmen den Sprung ins Parlament schaffte. Recep Tayyip Erdogan setzt nun alles daran, dieses demokratische Ergebnis zu seinen Gunsten zu korrigieren. Die Marschroute auf dem Weg zur Rückeroberung der uneingeschränkten Macht ist offensichtlich. Zuerst ließ die AKP die Koalitionsverhandlungen scheitern, dann setzte Erdogan als Staatschef kurzerhand für den 1. November Neuwahlen an.

Das Ziel: die HDP diskreditieren

Das nächste Ziel ist es, die Kurdenpartei HDP zu diskreditieren und sie unter die Zehn-Prozent-Hürde zu drücken. Dazu treibt er sein eigenes Land an den Rand eines Bürgerkrieges. Erdogan schürt den Konflikt mit den Kurden gezielt, schlägt mit seinen Hassreden einen Keil in die Gesellschaft, um am Ende als starker Mann und Retter der Türkei auftreten zu können. Dafür instrumentalisiert er auch die  Staatsanwaltschaft. Sie ermittelt nun gegen HDP-Chef Selahattin Demirtas  wegen Propaganda für eine Terrororganisation.

Es herrscht Pogromstimmung

Zumindest ein Teil seines Planes geht auf: in der Türkei herrscht seit Wochen eine Pogromstimmung. Ein nationalistischer Mob zündet kurdische Geschäfte an und macht regelrecht Jagd auf Kurden. Auf der anderen Seite überzieht die kurdische Terrororganisation PKK das Land mit Anschlägen auf Polizeistationen und Kasernen. Es zählt zu den historischen Verdiensten Erdogans, dass er einst als Premierminister die Aussöhnung mit den Kurden mutig voran getrieben hat. Doch das alles ist jetzt nur noch Stoff für die  Geschichtsbücher, die Regierung in Ankara lebt wieder im Kriegszustand. Das alles erinnert an die dunklen Jahre türkischer Politik, als die Militärs das Sagen hatten – und doch geht der Konflikt nun viel tiefer.  War es früher eine Auseinandersetzung zwischen dem Staat und der PKK, droht nun eine gesellschaftliche Auseinandersetzung zwischen den Türken und den Kurden.

Die Region ist ein Pulverfass

Wer je die Hoffnung hegte, die Türkei könne zu einem demokratischen Anker in der islamischen Welt werden, zu einem Vorbild für die Nachbarn, einer Brücke zwischen Europa und den arabischen Ländern, der kann sich von dieser Vorstellung  verabschieden. Und wer glaubt, das alles sei nur ein innenpolitisches Problem der Türkei, der irrt. Die gesamte Region gleicht einem Pulverfass. In den Nachbarstaaten toben blutige Kriege, islamische Fanatiker befinden sich auf dem Vormarsch, Millionen Flüchtlinge strömen über die Grenzen. Das sind Entwicklungen, die den Frieden und die Freiheit in der ganzen Welt bedrohen. Gerade in dieser Zeit bräuchte es eine weitsichtige politische Führung in der Türkei.

Einsilbiger Westen

Diese Bedrohungen sind allerdings auch der Grund, weshalb die westlichen Regierungen angesichts des Vorgehens Erdogans auffallend einsilbig sind. Der Nato-Partner Türkei wird für den Kampf gegen die islamischen Terroristen in Syrien und im Irak noch gebraucht. Und in Brüssel wissen die Verantwortlichen sehr genau, dass die türkische Regierung ohne Probleme einen unglaublichen Flüchtlingsstrom von Millionen Menschen in Richtung Europa auslösen könnte. In diesem Sinne haben sich die Realpolitiker im Westen mit dem Machtpolitiker in Ankara arrangiert.