Paris leidet still im Lockdown-Modus

In Frankreichs Metropole ist das Flanieren zur Kulturform geworden, doch in Zeiten der Pandemie fehlt das Publikum und die Bühne für den entspannten Auftritt.

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Kein schönes Bild – in Paris sind die Bistros geschlossen, die Stühle gestapelt und keiner weiß, wann sich dieser Zustand wieder ändert

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Eine Art Phantomschmerz macht sich breit

Am Anfang war der Verlust kaum wahrnehmbar. Was sollte schlimm daran sein, dass man sich für ein paar Tage abends wegen des Corona-Lockdowns nicht mehr an eines der kleinen Tischchen im Bistro an der Ecke setzen konnte? Es war, objektiv betrachtet, ja nur eine winzig kleine Einschränkung im Kampf gegen das heimtückische Virus. Doch aus den Tagen wurden Wochen, schließlich Monate und allmählich schlicht sich eine seltsame Art des Schmerzes ins Leben.

Der Lockdown riss einen wichtigen Teil aus dem sozialen Alltag der Menschen. Jener Moment nach der Arbeit, wenn sich in ganz Paris die Leute nach der Hetze des Büroalltags entspannt im Bistro auf ein Glas Wein treffen, bevor sie sich in die Metro setzen und nach Hause fahren. Meist ist es nur ein kurzes „Hallo“, aber dieser Augenblick markiert den Übergang von der Pflicht der Arbeit zur Kür der Freizeit. Doch nun sind die Bars verrammelt, die Theken verwaist und viele Leute arbeiten im Homeoffice.

Der Lockdown hat die Stadt grundlegend verändert

Wer durch die Straßen in Paris schlendert, wird allerdings gewahr, dass es nach Monaten des Lockdowns längst nicht mehr nur um den Verlust eines kleinen, persönlichen Rituals der Franzosen geht. Die ganze Stadt hat sich verändert, nicht nur in ihrem Aussehen, sondern auch in ihrem grundlegenden Selbstverständnis. Mehr als die meisten modernen Metropolen dieser Welt lebt Paris vom ständigen Treiben auf den Straßen. Die Menschen sitzen schwatzend auf den für Paris typischen Terrassen der Bistros, genießen Essen und Trinken, während vor ihren Augen das Leben wie ein langer und ruhiger Fluss vorbeigleitet.

Die breiten Boulevards der Metropole wirken wie eine unwiderstehliche Einladung, tief in dieses Lebensgefühl einzutauchen. Die Alleen mit ihren schattenspendenden Bäumen sind Theaterbühne, Laufsteg und Publikumsraum zugleich. Hier geht es um das Sehen und natürlich auch Gesehen werden. Paris ist eine Stadt, in der das Flanieren nicht nur erfunden, sondern zum Lebensgefühl erhoben wurde, dessen Beschreibung bei Charles Baudelaire oder Walter Benjamin Einzug in die Weltliteratur gehalten hat.

Das Virus ist wie ein Parasit

Das Leiden scheint groß. Denn nach einem Jahr Corona-Pandemie, die der Stadt wie ein Parasit das Leben aus den Adern gesogen hat, wünschen sich viele inzwischen sogar die Touristen zurück. Jene lärmende Menschenmasse, die bis tief in die Nacht die Métro verstopfte, in den Restaurants alle Plätze besetzte, die Preise in astronomische Höhen trieb und in deren Mitte manche geckenhaft aber glücklich mit ihren Einkaufstüten von Louis Vuitton über die Champs-Élysées stolzierten. Stattdessen sind an den Luxusgeschäften nun die Rollläden heruntergelassen und hinter den Glasscheiben der verschlossenen Bistros stapeln sich verstaubte Tische und Stühle. Und der schönste Boulevard der Welt verströmt plötzlich auch nur noch das Flair einer breiten, von Bäumen gesäumten Straße.

In einigen Seitengassen der Stadt wagen manche Wirte dann aber doch den kleinen Regelbruch. Am offenen Fenster ihrer Bistros verkaufen sie Bier und Wein, auf das Trottoire haben sie Stehtischchen gestellt, an denen sich rauchend und trinkend einige Männer unterhalten. Welch eine Zeit, in der solch banale Szenen wie ein Akt der Revolution wirken!

Eine Stadt stemmt sich gegen die Depression

Allein an den Wochenenden scheint sich die Stadt mit der Ankunft des Frühlings gegen dieses Gefühl der Depression zu wehren, das sich wie Mehltau über Paris gelegt hat. Dann versorgen sich vor allem die jungen Menschen im Supermarkt mit Bier und schleppen die Flaschen an die Seine oder in einen der Parks der Stadt. Dort setzen sie sich auf Randsteine oder ins Gras, spielen Boule und genießen für einige Stunden ihre kleine, oft maskenlose Freiheit. Aber auch dieses sorglose Treiben hat am frühen Abend ein jähes Ende. Wenn die Sonne beginnt, sich hinter dem Eiffelturm zu senken, scheuchen Einheiten der Polizei die Menschen von den Quais der Seine, denn um 19 Uhr beginnt die Corona-Ausgangssperre. Auf dem Nachhauseweg warnt dann eine Durchsage in der Métro die Fahrgäste sogar auf Chinesisch vor Taschendieben. Auch das eine wehmütige Erinnerung an eine scheinbar ferne Zeit, in der die ganze Welt in dieser Stadt der Liebe und des Lichts zuhause war. Es gibt keine chinesischen Touristen mehr in Paris – allerdings auch keine Taschendiebe.

Boykottaufrufe in Frankreich gegen Amazon

Die Buchhändler kämpfen in der Corona-Krise ums Überleben. Es wird während des Lockdowns zwar mehr gelesen, bestellt wird allerdings im Internet.

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Eine Werbung in Frankreich, die die Franzosen davon überzeugen soll, nicht bei dem US-Unternehmen Amazon zu kaufen.

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Heftiger Streit um Amazon

Unruhige Zeiten für Amazon in Frankreich. Dabei wurde der US-Versandhändler ohne eigenes Verschulden in einen Streit hereingezogen, in dessen Zentrum er nun steht. Denn der Konzern macht nichts Unlauteres: er liefert Bücher. Doch in den angespannten Zeiten von Corona kann auch das Alltägliche schnell zu einem Politikum werden. Inzwischen hat das Amazon-Thema in Frankreich die höchsten Ministerebenen erreicht.

Ausgangspunkt ist eine Anordnung der französischen Regierung, dass im Zuge des rigiden Corona-Lockdowns im Land alle „nicht relevanten“ Geschäfte schließen müssen. Dazu zählen in diesem Fall auch Buchhändler. Doch der Aufschrei angesichts dieses Schrittes ist groß – egal ob links, mitte oder rechts im politischen Spektrum.

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Initiative gegen Amazon

An vorderster Front kämpfen die Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, und der französische Schriftsteller Sylvain Tesson. Sie haben die Initiative „Entzündet das Licht in unseren Buchläden“ ins Leben gerufen. Das ist ein sehr poetisches Motto, die Ziele sind allerdings knallhart, denn sie fordern, dass die Geschäfte wieder öffnen dürfen, da ansonsten eine Pleitewelle drohe. „Die Pariser betrachten ihre Buchhandlung als unverzichtbares Gut“, erklärte Anne Hidalgo. Und dann plädierte sie an die Einwohner der Metropole. „Kaufen Sie bei ihrem Buchhändler. Sie können Ihr Buch dort bestellen und abholen.“

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An dieser Stelle nun kommt das Unternehmen Amazon ins Spiel. Zwar kaufen die Franzosen während des Lockdowns mehr Bücher, die bestellen sie aber sehr oft bei dem Versandhändler. Der liefert die Ware direkt ins Haus, was ein gutes Argument ist, wenn man in Frankreich pro Tag nur eine Stunde aus dem Haus darf und sich auch nicht weiter als einen Kilometer von seiner Wohnung entfernen sollte.

„Kaufen Sie nicht bei Amazon“

Natürlich freut sich Anne Hidalgo, dass ihre Landsleute mehr lesen. Allerdings ärgert sie sich, dass davon vor allem der US-Gigant Amazon profitiert. In einem Interview mit dem Sender BFM.TV sagte sie deshalb: „Kaufen Sie nicht bei Amazon!“ Und weiter: „Ich sage es ganz deutlich: Amazon ist der Tod unserer Buchhandlungen und unseres nachbarschaftlichen Lebens.“

Rückendeckung erhielt die Bürgermeisterin von der französischen Kultusministein Roselyne Bachelot. Sie versprach, dass die französischen Buchhandlungen von „erheblich reduzierten“ Postgebühren für den Versand bestellter Bücher profitieren werden. Dann legte sie nach. „Kaufen Sie keine Bücher auf digitalen Plattformen“, sagte sie dem Sender LCI. Doch das schien ihr offensichtlich nicht deutlich genug. Denn dann empfahl Roselyne Bachelot den Franzosen offen, sich nicht an das amerikanische Unternehmen zu wenden, dessen wirtschaftliches, soziales und ökologisches Modell seit vielen Jahren in der Kritik stehe. „Amazon sackt die Gewinne ein, es liegt an uns, dass es nicht so kommt“, sagte sie.

Die Regierung hilft den Händlern

Dann ging die französische Regierung mit der Unterstützung der Händler noch einen Schritt weiter. Man ließ wissen, dass unabhängigen Buchhändlern wegen der Zwangsschließung ihrer Läden die Versandkosten vollständig ersetzt würden. Dies solle es kleinen Händlern ermöglichen, „mit großen Internetplattformen“ in Konkurrenz zu treten, erklärte Wirtschaftsminister Bruno Le Maire, offensichtlich beeindruckt von den mehrtägigen Protesten der Buchhändler.

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Inzwischen bekommen die kleinen Händler in der Corona-Krise Unterstützung von unerwarteter Seite. Die Supermarktkette Intermarché kündigte eine „solidarische Initiative“ an, damit Buchhändler und andere von der Schließung betroffene Einzelhändler ihre Produkte über deren Internetseiten vertreiben können. Nicht alle kleinen Geschäfte seien in der Lage, über das Internet zu verkaufen, sagte der Intermarché-Vorsitzende Thierry Cotillard. Beworben wird diese Initiative mit dem griffigen Slogan: „Désolé Amazon“ – Es tut uns leid, Amazon.

Große Tristesse in der Stadt der Liebe

Verrammelte Bistros, geschlossene Museen und leere Luxus-Boutiquen – Paris bietet in der Corona-Krise ein Bild des Jammers.

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Die Bistros in Paris sind noch immer geschlossen.

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Paris liegt in der roten Zone

Paris liegt in der roten Zone. In Zeiten von Corona ist das ein sehr schlechtes Zeichen. Während in anderen Teilen Frankreichs – den grünen Zonen – die Menschen seit einigen Tagen wieder an den Stränden flanieren dürfen, bleiben in der Hauptstadt sogar die beliebten Parks geschlossen. Die Regierung befürchtet, dass an sonnigen Tagen die Leute zu zehntausenden in die Grünanlagen strömen könnten, weil sie zumindest ein kleines Stückchen der neuen Freiheit genießen möchten. Das Virus hätte dann keine Probleme, sich auszubreiten.

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Strikte Regeln in Zeiten von Corona

Über zwei Monaten waren die Franzosen praktisch kaserniert und durften nur in Ausnahmefällen und mit Passierschein ihre Wohnung verlassen. Dennoch hat die Pandemie bis zu diesem Zeitpunkt fast 30.000 Menschen im Land das Leben gekostet. Inzwischen sinken die Zahlen der Neuinfizierten fast täglich – im Ballungsraum Paris verharren sie allerdings auf hohem Niveau. „Wir sind im Krieg“, hatte Präsident Emmanuel Macron am 16. März erklärt, als er in einer dramatischen TV-Ansprache eine zunächst zweiwöchige Ausgangssperre verhängte, die dann mehrfach verlängert wurde.

Die Bistros kämpfen ums Überleben

Längst haben die Bistro-Besitzer in der Hauptstadt die Hoffnung aufgegeben, bald wieder ihre Tische auf die sonnenbeschienenen Terrassen zu stellen. Hinter den Glasfenstern der Cafés stapeln sich die Mitte März eilig zusammengeräumten Stühle, dazwischen stehen vertrocknete Pflanzen. Ein Bild, das an Tristesse kaum zu überbieten ist. Manche Wirte nutzen die Zeit, ihre Lokale zu renovieren. „Ich habe nun alles drei Mal geputzt und die Küche umgebaut“, klagt der Betreiber eines kleinen Restaurants unweit der Oper, „ich weiß nicht, was ich noch machen soll.“ Seinen Abholservice hat er wieder eingestellt, denn er weiß nicht, für wen er kochen könnte. 36 Millionen Touristen, vor allem aus Asien, besuchen die Metropole an der Seine jedes Jahr, doch nun ist die Stadt wie leergefegt.

Die Lebenslust und Leichtigkeit verloren

Auf den Champs-Élysées stehen sich die Verkäufer in den berühmten Luxus-Boutiquen die Beine in den Bauch. Kunden? Fehlanzeige! „Ich erkenne Paris nicht wieder“, sagt ein livrierter Türsteher vor dem edlen Geschäft von Cartier im Schatten des Arc de Triomphe. Das Corona-Virus hat sich wie Mehltau über die Stadt gelegt. Wer französische Leichtigkeit und Lebenslust sucht, der ist im Moment in Paris an der falschen Stelle.