Es sind oft die kleinen Beobachtungen, die viel über ein Land aussagen. Das gilt auch für Russland. Die Welt starrt nun auf die große Politik, den Kreml und die Aussagen des neu gewählten Wladimir Putin – doch zwei Geschehnisse lassen wesentlich tiefer blicken.
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Ein Prozess in Petrosawodsk
Eine dieser vielsagenden Geschichten spielt in Petrosawodsk. Das ist die Hauptstadt der nordrussischen Teilrepublik Karelien. Dort fordert der Staatsanwaltschaft in einem Strafprozess gegen den angesehenen Menschenrechtler und Historiker Juri Dmitrijew neun Jahre Haft wegen angeblicher Kinderpornografie. Das meldete die Agentur Interfax.
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Прокуратура запросила 9 лет для историка Юрия Дмитриеваhttps://t.co/SQFjLVDZfV
— Новая Газета (@novaya_gazeta) 20. März 2018
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Dmitrijew ist nicht irgendjemand. In Russland weitgehende unbekannt, hat er sich dennoch einen Namen gemacht, weil er in jahrzehntelanger Arbeit in Karelien viele Massengräber mit Erschießungsopfern des Terrors unter Sowjetdiktator Josef Stalin gefunden hat. Er ist auch örtlicher Vorsitzender der Bürgerrechtsorganisation Memorial. Sie protestiert seit Monaten gegen die Anschuldigungen: Dmitrijew solle mit dem Prozess in seiner Aufklärungsarbeit mundtot gemacht werden.
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„Diese Menschen sind das Gewissen Russlands“ – Menschenrechtler Juri Dmitrijew aus U-Haft entlassen – Interview mit @7x7journal: https://t.co/epvTE2kisM pic.twitter.com/FLfqZZKiIk
— dekoder (@dekoder_org) 2. Februar 2018
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Nacktfotos von der Pflegetochter
Die Anklage stützt sich auf Nacktfotos der Pflegetochter Dmitrijews in seinem Computer. Der Historiker sagt, er habe mit den Bildern die Entwicklung des Kindes für das Jugendamt dokumentiert. Zuletzt hatten mehrere Analysen ergeben, dass die Bilder keine Kinderpornografie darstellen. Auch psychologische Tests entlasteten Dmitrijew, der Ende Januar unter Auflagen aus der Untersuchungshaft entlassen wurde.
Die hohe Strafforderung verschärft die Lage für ihn wieder, denn russische Gerichte folgen in den meisten Fällen dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft.
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Раньше он был просто наш президент и его можно было поменять. А теперь он наш вождь. И поменять его мы не дадим. И вы это сделали своими руками.
— Маргарита Симоньян (@M_Simonyan) 19. März 2018
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Der „Führer“ Russlands
Und dann wäre da noch Margarita Simonjan. Die Frau ist die Chefredakteurin des russischen Staatssenders RT, einem der größten Propagandainstrumente des Kremls. Sie findet für den wiedergewählten Präsidenten Wladimir Putin nur lobende Worte – und schießt bei der Wortwahl etwas über das Ziel hinaus. Auf Twitter hat Margarita Simonjan ihn als „unseren Führer“ (вождь) bezeichnet. „Früher war er einfach unser Präsident und konnte abgelöst werden. Jetzt ist er unser Führer. Und wir lassen nicht zu, dass er abgelöst wird. Und Ihr habt das geschafft!“, schreibt Simonjan.
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Мы больше не хотим жить как вы. Лет пятьдесят – тайно и явно – мы хотели жить как вы, а больше не хотим.
Мы вас больше не уважаем. И всех, кого вы у нас поддерживаете. И заодно еще тех, кто у нас поддерживает вас. Отсюда искомые пять процентов.
— Маргарита Симоньян (@M_Simonyan) 19. März 2018
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Ein anderes Leben
In einer langen Kette von Tweets warf sie dem Westen vor, in Russland immer nur auf die isolierten Liberalen zu setzen und das Land umformen zu wollen. Liberalismus und Patriotismus sollten sich nicht ausschließen. „Aber ihr habt alles getan, dass wir in dieser trügerischen Alternative den Patriotismus gewählt haben“, so die Chefredakteurin. „Wir wollen nicht mehr so leben wir ihr.“ Das hört sich nach enttäuschter Liebe an.