Tiefe Einblicke in die russische Befindlichkeit

Es sind oft die kleinen Beobachtungen, die viel über ein Land aussagen. Das gilt auch für Russland. Die Welt starrt nun auf die große Politik, den Kreml und die Aussagen des neu gewählten Wladimir Putin – doch zwei Geschehnisse lassen wesentlich tiefer blicken.

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Ein Prozess in Petrosawodsk

Eine dieser vielsagenden Geschichten spielt in Petrosawodsk. Das ist die Hauptstadt der nordrussischen Teilrepublik Karelien. Dort fordert der Staatsanwaltschaft in einem Strafprozess gegen den angesehenen Menschenrechtler und Historiker Juri Dmitrijew neun Jahre Haft wegen angeblicher Kinderpornografie. Das meldete die Agentur Interfax.

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Dmitrijew ist nicht irgendjemand. In Russland weitgehende unbekannt, hat er sich dennoch einen Namen gemacht, weil er in jahrzehntelanger Arbeit in Karelien viele Massengräber mit Erschießungsopfern des Terrors unter Sowjetdiktator Josef Stalin gefunden hat. Er ist auch örtlicher Vorsitzender der Bürgerrechtsorganisation Memorial. Sie protestiert seit Monaten gegen die Anschuldigungen: Dmitrijew solle mit dem Prozess in seiner Aufklärungsarbeit mundtot gemacht werden.

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Nacktfotos von der Pflegetochter

Die Anklage stützt sich auf Nacktfotos der Pflegetochter Dmitrijews in seinem Computer. Der Historiker sagt, er habe mit den Bildern die Entwicklung des Kindes für das Jugendamt dokumentiert. Zuletzt hatten mehrere Analysen ergeben, dass die Bilder keine Kinderpornografie darstellen. Auch psychologische Tests entlasteten Dmitrijew, der Ende Januar unter Auflagen aus der Untersuchungshaft entlassen wurde.

Die hohe Strafforderung verschärft die Lage für ihn wieder, denn russische Gerichte folgen in den meisten Fällen dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft.

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Der „Führer“ Russlands

Und dann wäre da noch Margarita Simonjan. Die Frau ist die  Chefredakteurin des russischen Staatssenders RT, einem der größten Propagandainstrumente des Kremls. Sie findet für den wiedergewählten Präsidenten Wladimir Putin nur lobende Worte – und schießt bei der Wortwahl etwas über das Ziel hinaus. Auf Twitter hat Margarita Simonjan ihn als „unseren Führer“ (вождь) bezeichnet. „Früher war er einfach unser Präsident und konnte abgelöst werden. Jetzt ist er unser Führer. Und wir lassen nicht zu, dass er abgelöst wird. Und Ihr habt das geschafft!“, schreibt Simonjan.

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Ein anderes Leben

In einer langen Kette von Tweets warf sie dem Westen vor, in Russland immer nur auf die isolierten Liberalen zu setzen und das Land umformen zu wollen. Liberalismus und Patriotismus sollten sich nicht ausschließen. „Aber ihr habt alles getan, dass wir in dieser trügerischen Alternative den Patriotismus gewählt haben“, so die Chefredakteurin. „Wir wollen nicht mehr so leben wir ihr.“ Das hört sich nach enttäuschter Liebe an.

Memorial spricht von Brandstiftung

Für die russische Menschenrechtsgruppe Memorial ist die Sache klar. Der Brand in ihren Büros im Nordkaukasus ist nicht von selbst entstanden – das sei Brandstiftung gewesen. Beweise dafür gebe es genug.

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Computer und Dokumente zerstört

Bei dem Feuer in der Nacht zum Mittwoch in Nasran, der größten Stadt der Teilrepublik Inguschetien, seien mehrere Computer und Dokumente zerstört worden, teilte der Zivilschutz mit. Memorial brachte den Brand mit der Festnahme eines Mitarbeiters im benachbarten Tschetschenien in Verbindung.

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„Das war nicht einfach ein Feuer, das war Brandstiftung“, sagte Oleg Orlow von Memorial der Agentur Tass. „Eine Videokamera hat aufgenommen, wie um 3.35 Uhr Moskauer Zeit (1.35 Uhr MEZ) ein Auto vorgefahren ist und zwei Menschen in Masken und mit Kanistern in den Händen ausgestiegen sind.“ Die Männer seien mit einer Leiter zum Fenster im zweiten Stock geklettert, wo sich das Büro befinde.

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„Это был не просто пожар, <…> поджог. Видеокамера зафиксировала, как в 03:35 мск подъехала машина, из нее вышли два человека в масках, с канистрой в руках, они приставили лестницу и поднялись к окну второго этажа этого здания, где расположен офис „Мемориала. <…> Сработала сигнализация, быстро приехали спасатели и остановили дальнейшее распространение огня, уничтожена техника, часть документации.“

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Leiter des Büros in Tschetschenien verhaftet

Memorial ist die wichtigste russische Menschenrechtsorganisation. Vergangene Woche war der Leiter ihres Büros in Tschetschenien, Ojub Titijew, festgenommen worden. Ihm wird Drogenbesitz vorgeworfen. Memorial geht davon aus, dass die örtlichen Behörden Titijew wegen seiner Arbeit aus dem Verkehr ziehen wollen und ihm die Drogen untergeschoben haben. Orlow sagte, zwar habe die Arbeit in Inguschetien nichts mit Tschetschenien zu tun, aber er vermute dennoch einen Zusammenhang zwischen dem Brand und Titijews Festnahme.
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Europarat fordert Freilassung Titijews

Für eine Freilassung Titijews und eine transparente Klärung der Vorwürfe haben sich unter anderem die Bundesregierung, der Europarat und das US-Außenministerium eingesetzt. Die tschetschenische Führung wies die Forderungen zurück. „Das ist grober, durch nichts zu rechtfertigender Druck auf die Ermittlungen“, sagte Alwi Karimow, Sprecher von Republikchef Ramsan Kadyrow.
Dieser führt in Tschetschenien ein Willkürherrschaft, in die Moskau ihm kaum hineinredet. Immer wieder gab es Fälle, bei denen Menschenrechtler bedroht, entführt oder getötet wurden. 2009 war Titijews Vorgängerin Natalja Estemirowa ermordet worden.

Kein Geld für „ausländische Agenten“

Dafür hat Putin Geld! Ein Jugendtreffen auf der von Russland annektierten ukrainischen Halbinsel Krim wird vom Kreml mit umgerechnet rund 195.000 Euro finanziert – in vielen anderen Fällen ist der russische Präsident weniger spendabel.

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Kein Geld für „ausländische Agenten“

Ganz leer aus gehen jene Nichtregierungsorganisationen, die von der Justiz als „ausländische Agenten“ eingestuft werden. Ihnen wurden nun die Zuschüsse für das kommende Jahr kurzerhand gestrichen. Wie in einer Aufstellung der Förderungen vom Donnerstag zu sehen war, gehen etwa die Menschenrechtsorganisation Memorial, das Komitee der Soldatenmütter von St. Petersburg und die Wahlbeobachtungsgruppe Golos leer aus. Einzige Ausnahme ist der an der Wolga beheimatete Radiosender Antenne Udmurtien, der zu einer als „Auslandsagent“ eingestuften Menschenrechtsgruppierung gehört und einen Zuschuss von 3,2 Millionen Rubel (etwa 52.000 Euro) erhält.

In Zukunft nur noch Spenden

Die russische Justiz hatte infolge der Ukraine-Krise und des Konflikts mit dem Westen zuletzt zahlreiche Organisationen zu „ausländischen Agenten“ erklärt. In ihren Fällen wird davon ausgegangen, dass die Gruppierungen Mittel aus dem Ausland erhalten und einer „politischen Tätigkeit“ nachgehen. Mehrere Gruppen kündigten als Reaktion auf die Entwicklung bereits an, ihre künftige Arbeit über Spenden zu finanzieren. Golos etwa will auf diesem Weg drei Millionen Rubel einsammeln.

Geld für „patriotische Projekte“

Laut der neuen Förderliste verteilen sich die nun bewilligten Zuschüsse von umgerechnet insgesamt etwa 32,4 Millionen Euro für das kommende Jahr auf 436 Organisationen. Anträge stellten 4380 Gruppen. „Der Großteil geht an patriotische Projekte, die das herrschende System stützen“, sagte die unabhängige Analystin Maria Lipman – und dazu zählt eben jenes Jugendtreffen auf der Krim.