Transatlantisches Netzwerk der Populisten

Kurz nach seiner Wahl zum US-Präsidenten hat Donald Trump erstmals einen ausländischen Politiker getroffen. Allerdings keinen Staatschef – sondern den Brexit-Befürworter Nigel Farage. Auch die andere rechtspopuliten aus Europa machen dem zukünftig mächtigsten Mann der Welt ihre Aufwartung.

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Produktives Treffen der Sieger

Beide Seite reagierten nach dem Treffen fast euphorisch. Das Gespräch sei sehr produktiv gewesen, sagte Kellyanne Conway aus Trumps Team zu Reportern. „Sie haben über die Freiheit und das Gewinnen gesprochen und darüber, was das alles für die Welt bedeutet.“Farage war beim EU-Referendum einer der entscheidenden Kämpfer für den EU-Austritt Großbritanniens. Er hatte Trump im Wahlkampf in den USA besucht und ihn unterstützt. Farage scheint viel daran gelegen, die Verbindungen zwischen Washington und London wieder auszubauen – auch symbolisch.

Schon direkt nach der Wahl von Donald Trump zum neuen US-Präsidenten hatten Beobachter vermutet, dass es zu einem Comeback der „special relationship“ zwischen den USA und Großbritannien kommen könnte. So rief Trump Premierministerin Theresa May am Donnerstagnachmittag als eine der ersten Staats- und Regierungschefs weltweit an. Dass er jedoch den Brexit-Politiker Farage vor der Regierungschefin trifft, ist ein auch ein Zeichen mit großem Symbolwert.

Der ehemalige schwedische Premier und Außenminister Carl Bildt bringt die Wirkung des Besuches von Farage bei Trump auf den Punkt.

 

Grüße aus Frankreich

Auch in anderen Ländern Europas haben sich rechtspopulisitsche Politiker zu Wort gemeldet, die etwas vom Glanz Trumps abbekommen wollen. Marine Le Pen, die Chefin des rechtsextremen Front National, etwa hatte sich in den vergangenen Wochen sehr zurückgehalten mit ihrer Unterstützung für Donald Trump, doch nach dem Sieg des Populisten reihte auch sie sich ein in die plötzlich lange Schlange der Unterstützer.

Für sie ist der Sieg Trumps natürlich ein Sieg des Volkes über eine verrottete Politikerkaste, die sich nicht mehr für das Wohl der Menschen interessiere. Sie hofft nun natürlich, dass sie für ihren Wahlkampf für das Präsidentenamt in Frankreich Rückenwind bekommt. Der Front National verkauft sich nun als Anwalt der Zurückgelassenen. War sein Programm vor einigen Jahren noch wirtschaftsliberal, fordert Marine Le Pen nun wie Trump auch Zölle auf ausländische Produkte. Ihre Sympathisanten sind ebenso häufig weiße, ältere Männer und Menschen, die auf dem Land leben und darunter leiden, von ihrer Arbeit nicht mehr leben zu können.

Einen Schritt weiter ist ein anderes prominentes Familienmitglied des Le-Pen-Clans. Marione Le Pen wird sich mit Mitarbeitern des Trump-Stabes treffen.

Am Tag seines Wahlsieges hat Donald Trump auch einen Brief auf französisch erhalten: der Bürgermeister des südfranzösischen Städtchens Béziers lud den künftigen US-Präsidenten ein; schließlich träten sie beide gegen „die Eliten“ und für „Traditionen und Grenzen“ ein. Robert Ménard ist einer der wenigen Bürgermeister des Front National in Frankreich und hat sich im vergangenen Monat vor allem um 21 neue Verordnungen für Parkplätze gekümmert – aber nun will die rechtsextreme Partei auch vom Trump-Sieg jenseits des Atlantiks profitieren.

Ein Gruß aus Deutschland

In dieser Reihe darf die AfD natürlich nicht fehlen, die immer wieder versucht, die Rechtspopulisten in Europa zu vernetzen – bis jetzt allerdings mit eher bescheidenem Erfolg. Aber auch sie hoffen, dass ihr Projekt nun einen Aufschwung nimmt. Der Gruß über den Atlantik kommt auf jeden Fall von Herzen.

Gute Ratschläge von Farage für Trump

Nigel Farage meldet sich zu  Wort. Jetzt hat sich der Rechtspopulist für Donald Trump als Präsidenten der USA ausgesprochen. Nur er bringe den erhofften Wechsel, so der britische Ex-Chef von Ukip.

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Der Lautsprecher Nigel Farage

Wir erinnern uns: Nigel Farage ist der Mann, der nach dem Brexit „sein Leben“ zurück haben wollte. Das heißt, mit rechtspopulistischen Parolen spaltete er die britische Gesellschaft und warf dann die Brocken hin. Offensichtlich hatte er erkannt, dass konstruktive Politik doch mehr verlangt als Beschimpfungen und Verunglimpfungen der politischen Gegenseite.

Aber auch nach seinem Rücktritt ist es nie ganz ruhig geworden um Farage. Immer wieder machte er Einlassungen zur aktuellen Politik. Nun hat er sich im US-Wahlkampf zu Wort gemeldet. Natürlich würde der Brite Donald Trump wählen, denn der stehe für den Wechsel, sagt Farage. Hillary Clinton repräsentiere das alte System, das es zu zerstören gelte. Hier geht es zu dem Interview

Ratgeber für Trump

Dann sprach der Ex-Chef von Ukip dem Milliardär noch Mut zu angesichts dessen sinkender Umfragewerte. Die Umfrageinstitute hätten den Sieg der Leave-Kampagne auch nicht wirklich vorausgesagt. Noch am Tag der Abstimmung sei die Brexit-Fraktion hinten gelegen – aber dann sei alles anders gekommen. Farage trat in „Squawk Alley“ auf, wo er die letzte Debatte der beiden Kandidaten verfolgte.

Zwischen Trump und Farage gibt es viele Gemeinsamkeiten. Der Brite  warnte vor dem Referendum der Briten vor der Überfremdung des Landes durch Migranten, schürte Ängste gegen Ausländer. Positionen, die zu Donald Trumps Einstellungen gegen Einwanderer und seinen teilweise rassistischen Ansichten in der Ausländerpolitik gut passen.

Farage gegen Clinton

Schon einmal, in Jackson im US-Bundesstaat Mississippi, standen Trump und Farage gemeinsam auf der Bühne. Der Brexit-Frontmann war damals gekommen, um den schwächelnden Kandidaten gegen die Demokratin Hillary Clinton zu unterstützen. Trump stehe für die Anti-Establishment-Bewegung, die er auch in seiner britischen Heimat angeführt habe, sagte Farage in Jackson. „Wäre ich ein amerikanischer Bürger, dann würde ich nicht mal für Hillary Clinton stimmen, wenn ich dafür bezahlt würde.“

Marine Le Pen meldet sich zu Wort

Nigel Fargage ist nicht der einzige Spitzenpolitiker, der für Trump wirbt. Auch die Französin Marine Le Pen macht sich für den Milliardär stark. Die Meinung der Chefin des rechtsextremen Front National ist wie immer sehr pointiert: „Hillary Clinton bedeutet Krieg, Hillary Clinton bedeutet Zerstörung, eine Destabilisierung der Welt, eine für mein Volk verheerende Wirtschaftspolitik, geostrategische Entscheidungen, die zu weltweiten Konflikten führen würden.“, sagte sie jüngst in einem Interview mit dem Fernsehsender CNN. Sie und Trump hingegen hätten viele Gemeinsamkeiten. So seien sie beide gegen das politische Establishment.

Nicht ohne Hintergedanken

Es ist unwahrscheinlich, dass Le Pen solche Aussagen ohne Hintergedanken tut. Wahrscheinlich rechnet sie damit, dass ihre Chancen beim Präsidentenwahlkampf in Frankreich im kommenden Jahr steigen, würde Donald Trump tatsächlich zum Präsidenten der vereinigten Staaten gewählt. Im Gegensatz zu Farage hält sich Le Pen mit Aussagen über Trump allerdings zurück. Offensichtlich rechnet sie damit, dass der  eingenwillige Kandidat in den USA doch noch einige Aussagen tun könnte, die ihn als Politiker völlig diqualifizieren. Wohl auch aus diesem Grund hat sie sich noch nicht offiziell mit Trump getroffen. Allerdings gab es schon Gespräche mit Steve King, extrem konservativen Abgeordneten der Republikaner.

 

Die Vorstellung, dass Donald Trump US-Präsident ist, und Marine Le Pen im höchsten Staatsamt in Frankreich ankommt, gilt vielen Beobachtern allerdings als ein nicht gerade erstrebenswerter Zustand.

Eine Partei ohne Aufgabe

Das ging schnell. Nach nur 18 Tagen tritt Diane James als Ukip-Chefin zurück. Ihre Begründung für diesen Schritt lässt tief blicken: ihr fehle die „nötige Autorität“ und die „volle Unterstützung“ in der Partei.

Ein Kommentar:

 

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Eine eindeutige Meinung zu Ukip.

Farage dominiert Ukip

Allzu überraschend kommt der Rücktritt allerdings nicht, denn Diane James hat eine Herkulesaufgabe übernommen, bei der sie im Grunde nur verlieren konnte. So stand sie auch nach ihrer Wahl im übermächtigen Schatten von Nigel Farage, der Ukip fast ein Jahrzehnt lang wie eine Ein-Mann-Partei geführt hatte. Nicht zuletzt seiner Popularität ist es zu verdanken, dass die Briten Ende Juni für einen Austritt aus der EU stimmten.

 

Wichtiger aber ist, dass Ukip seit dem Brexit-Votum eine Partei ohne Aufgabe ist. Die Forderung nach einer Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft war das Band, das die politische Sammelbewegung über Jahre fest zusammengeschweißt hat. Nun ist die Mission erfüllt und für viele Parteimitglieder stellt sich die existenzielle Frage: Was nun?

Das Problem Theresa May

Die Ratlosigkeit wird durch die neue britische Premierministerin Theresa May noch vergrößert. Denn die sehr konservativ eingestellte Regierungschefin der Tories hat sich sofort viele Ukip-Positionen zu Eigen gemacht. Schon als Innenministerin hatte Theresa May eine harte Linie gegenüber Kriminellen vertreten, der illegalen Einwanderung den Kampf angesagt und sich für weniger Zuwanderung ausgesprochen. Das hat sich nicht geändert. Und sie ist es nun, die den Ukip-Traum – den Austritt Großbritanniens aus der EU – in die Tat umsetzt. Ukip selbst bleibt dabei nur die Rolle des Zuschauers.

Nigel Farage als Retter?

Schon machen Gerüchte die Runde, dass Nigel Farage den Rücktritt vom Rücktritt verkünden und wieder an die Spitze der Partei zurückkehren könnte. Doch ist es unwahrscheinlich, dass der charismatische Führer das Abdriften von Ukip in die politische Bedeutungslosigkeit aufhalten kann.

 

 

Die Brexit-Apokalypse ist verschoben

Die Briten haben sich im Juni für den Austritt aus der EU entschieden. Aber der vorausgesagte Absturz der Wirtschaft ist ausgeblieben. Die Brexit-Befürworter triumphieren, doch könnte ihnen der Jubel bald im Halse stecken bleiben.

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Ein Bild mit hohem Symbolwert – am Flughafen von Newcastle wird klar gemacht, wer einmal draußen ist, kommt nicht mehr zurück.

Mayday! Mayday!

Großbritannien ist nicht im Chaos versunken, die von vielen vorhergesagte Apokalypse ist ausgeblieben. Nach dem Brexit-Votum der Briten Ende Juni machten sich nicht nur Politiker, sondern auch Banken und Unternehmen auf das Schlimmste gefasst. „Mayday! Mayday!“ lautete die alarmierende Überschrift über einem Analysepapier von Credit Suisse. Hunderttausende Jobs stünden unmittelbar auf der Kippe, lautete die düstere Vorhersage. Doch die Realität hat sich nicht an die meisten Prophezeiungen der Analysten und Experten gehalten. Die politische und wirtschaftliche Entwicklung hat einen unerwarteten Verlauf genommen.

Kurze Ratlosigkeit nach dem Brexit

Zwar ist das Pfund abgesackt und die Zinsen sind gesunken, doch sonst sind die Brexit-Folgen erstaunlich gering. Selbst die Finanzmärkte haben sich nach einer Orientierungsphase wieder erholt. Fundament dieser stabilen Entwicklung ist unter anderem die gesteigerten Nachfrage der Konsumenten. So haben die britischen Einzelhändler im August kaum Umsatzeinbußen hinnehmen müssen. Die Einnahmen sanken zum Vormonat um 0,2 Prozent, wie das Statistikamt ONS am Donnerstag mitteilte. Im Juli, dem ersten Monat nach der Anti-EU-Abstimmung, hatte es allerdings noch ein Plus von 1,9 Prozent gegeben. Auch die Industrieproduktion blieb stabil. Die Aktivität der britischen Fabriken lag im August auf dem höchsten Stand seit zehn Monaten. Und zur Überraschung der Skeptiker verharren die Investitionen auf dem gleichen Niveau wie vor dem Brexit-Referendum. Das ist erstaunlich, sind doch die Handelsbeziehungen Großbritanniens zum Rest der EU alles andere als geklärt. Zudem zeigte sich der britische Arbeitsmarkt bislang wenig beeindruckt vom Brexit-Votum. Die Zahl der Anträge auf Arbeitslosenunterstützung kletterte im August lediglich um 2400 auf 771 000, so das Statistikamt ONS. Angesichts dieser Daten jubilieren die Brexit-Befürworter. „Ich sehe keinen Grund, weshalb der Brexit in Großbritannien eine Rezession auslösen sollte“, sagte John Redwood, einer der prominenten Europa-Skeptiker der konservativen Partei. Die „Brexiter“ sollten allerdings ihre Euphorie bremsen, warnen Fachleute, denn die kurzfristige Entwicklung sage nichts über die langfristigen Auswirkungen des Austritts.

Die langfristigen Folgen des Brexit

IMG_1687Eine Umfrage der Industrie- und Handelskammern bei rund 5600 deutschen Unternehmen stützt diese Aussage. Die unmittelbaren Auswirkungen des Brexit auf Investitionen in Großbritannien sind laut der Befragung überschaubar. Kaum ein Unternehmen plant keine vorschnellen Anpassungen. „Die Auswirkungen werden vielmehr langfristig von den Ergebnissen der Austrittsverhandlungen bestimmt“, heißt es. in der Umfrage Das bedeutet, dass die Firmen in den kommenden Jahren durchaus ihre Investitionen im Königreich zurückfahren und dort teils auch weniger Mitarbeiter beschäftigen wollen.

Der Grund, weshalb Großbritannien nicht unmittelbar nach der Brexit-Entscheidung abgestürzt ist, liegt unter anderem an der robusten ökonomischen Entwicklung des Landes während der vergangenen Jahre. DieWirtschaft in Großbritannien wuchs nach Angaben der niederländischen ING Bank im Jahr 2015 um 2,3 Prozent – im Vergleich zu bescheidenen 1,6 Prozent in der Euro-Zone. Die niederen Zinsen und ebenso moderate Inflation befeuerten den Immobilienmarkt und den Privatkonsum. Zudem waren viele Investitionsentscheidungen lange vor dem Brexit-Votum gefällt worden. Positiv auf die Entwicklung direkt nach dem Referendum wirkte sich auch aus, dass das Land nicht im – von vielen vorausgesagten – politischen Chaos versank. Die Konservativen einigten sich überraschend schnell auf Theresa May als Premierministerin, die überall ein hohes Ansehen genießt und in Ruhe ihren neuen Job in Angriff nahm. Entscheidend abgefedert wurden die Folgen des Brexit allerdings auch durch einige radikale Maßnahmen der Bank of England. Um die Wirtschaft anzukurbeln senkten die Notenbanker den Leitzins und kauften im großen Stil Anleihen des britischen Staates und von privaten Unternehmen.

Die Rolle der Bank of England

Experten vermuten, dass die Londoner Währungshüter bei einer weiteren Eintrübung der Konjunktur den Schlüsselsatz zur Versorgung der Banken mit Geld auf oder nahe an die Nulllinie setzen werden. Mit 0,25 Prozent liegt das Leitzinsniveau seit der jüngsten Senkung Anfang August so tief wie nie zuvor seit Gründung der Bank of England vor mehr als 320 Jahren.

Analysten warnen, sich angesichts der erstaunlich ruhigen Lage in Sicherheit zu wiegen. Die Erholungssignale könnten sich nach Einschätzung der Rating-Agentur Standard & Poor’s als Trugbild erweisen: „Sie dürften nichts an den trüben Langfristperspektiven ändern“, prophezeite S&P-Ökonomin Sophie Tahiri. Die Ernüchterung könnte schon im kommenden Jahr ins Hause stehe. Die Notenbank rechnet für 2017 nur noch mit einem Wachstum von 0,8 Prozent statt bislang 2,3 Prozent.

Kritik an Theresa May

Wurde die Politik der ruhigen Hand von Premierministerin Theresa May anfangs gelobt, sehen viele darin inzwischen eine wachsende Gefahr. May will erst Anfang 2017 die offiziellen Austrittsgespräche beginnen. Vorher muss sich die Regierung erst sortieren, die internen Kräfteverhältnisse abstecken und vor allem die aufmüpfigen Schotten beruhigen, die unbedingt in der EU bleiben wollen. Experten warnen schon vor einer Hängepartie mit ungewissem Ausgang. Für Unternehmer und Banker beiderseits des Ärmelkanals wäre diese Unsicherheit reines Gift.

 

Frechheit siegt!

Populisten wenden sich gezielt an die programmatisch Uninformierten. Die Aufklärung stößt an ihre Grenzen: Wie diskutiert man mit Bürgern, die Wissen ablehnen?

Zu diesem Thema eine Analyse von Tim Schleider, Ressortleiter Kultur, bei der Stuttgarter Zeitung.

 

Geduld und Verständnis

Gerade war der EU-Ratspräsident Donald Tusk in London und fragte bei der britischen Premierministerin Theresa May höflich an, wann London denn nun gedenke, seinen Austritt aus der Europäischen Union zu erklären. May wiegelte ab. Man sei noch lange nicht so weit mit den Vorbereitungen, müsse sich erst weiteren Überblick verschaffen. Man bitte um Geduld und um Verständnis.

Die Brexit-Volksabstimmung in Großbritannien ist inzwischen weit über zwei Monate her. Propagandisten des EU-Austritts wie Boris Johnson behaupteten zuvor täglich, die Renationalisierung von britischer Politik und Wirtschaft sei praktisch ein Kinderspiel. Gleich in der Woche nach der Wahl könne es losgehen, und prompt würden Milliarden an Pfund in bisher marode britische Schulen und Krankenhäuser fließen. Nicht nur politische Gegner, auch neutrale Kommentatoren wiesen immer wieder darauf hin, dass vieles in Johnsons Kampagne einseitig konstruiert, manches sogar gelogen war. Aber die Brexit-Befürworter schwindelten gar nicht aus Dummheit. Viele von ihnen sind schlau; Boris Johnson ist es allemal. Sie schwindelten aus Frechheit. Und die Frechheit hat gesiegt.

Haltlose Forderungen

Ob es der US-amerikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump oder die französische Präsidentschaftsanwärterin Marine Le Pen ist: Sie werden nicht müde, eine völlig haltlose Forderung nach der anderen aufzustellen; haltlos, weil sie weder im Einklang mit Fakten noch mit den Regeln des Rechts stehen. Sie tun dies aber keineswegs aus Versehen oder aufgrund mangelnder Intelligenz, sondern aus Kalkül und Prinzip. Sie wollen siegen. Also sind sie frech. Denn derzeit siegt populistische Frechheit auf breiter Front.

Die Mittel klassischer Aufklärung, mit denen politische Gegner, Journalisten und Experten versuchen, die zahlreichen Widersprüche in den Forderungen der neuen Populisten aufzudecken, schlagen völlig fehl. Johnson, Trump oder Le Pen wenden sich in ihren Kampagnen nicht an die Informierten, sondern an die programmatisch Uninformierten. Es wird scheinbar immer sinnloser, in die öffentliche Debatte noch mehr Informationen einspeisen oder Widersprüche aufdecken zu wollen. Die klassischen Instrumente der öffentlichen Debatte in einer offenen, demokratischen Gesellschaft – das Benennen der Tatsache, das Suchen nach Ursachen, das Differenzieren und Abwägen von Positionen – stoßen an ihre Grenzen. Frechheit könnte zuhören. Will es aber gar nicht.

Hybris ist die Kehrseite des Irrtums

Barack Obama gewann 2008 auch deswegen die Präsidentschaftswahl, weil es ihm gelang, Wähler zu aktivieren, die bisher aus Distanz zum politischen System den Wahlen fern geblieben waren. Er konnte sie überzeugen, dass es klüger sei, sich als Teil eines offenen poltischen Systems zu begreifen und daran zu partizipieren. Donald Trump will die Präsidentschaftswahl 2016 gewinnen, indem er Wähler aktiviert, die ein offenes politisches System verachten und sich einen Herrscher wünschen, der mit den Regeln dieses Systems radikal bricht. Alle Versuche innerhalb des Systems, über die zerstörerischen Tendenzen im Wollen und Wirken eines Populisten à la Trump hinzuweisen, können nicht fruchten. Just wegen seiner zerstörerischen Tendenzen wird er geschätzt.

Eigentlich ist es in allen politischen Gesprächen das schlechteste Argument und die ärgerlichste Stelle, wenn eine Seite der anderen vorwirft, sie habe von diesem oder jenem Sachverhalt überhaupt keine Ahnung, sei naiv und blauäugig, solle sich überhaupt erst einmal mit den Fakten vertraut machen. Aber in der Auseinandersetzung mit den derzeit populären Populisten spielt diese Ebene auch längst keine Rolle mehr. Boris Johnson, Donald Trump oder Marine Le Pen vorzuwerfen, sie seien dumm und hätten von den Fakten keine Ahnung, wäre seinerseits sehr dumm. Einer der größten Fehler der Aufklärung war stets, ihre Gegner als dumm und geschmacklos zu verachten und gering zu schätzen. Wenn die Aufklärung scheiterte, dann scheiterte sie entweder an diesem Irrtum oder an ihrer Hybris. Wobei Hybris nur die Kehrseite des Irrtums ist.

Mitmenschlichkeit ist immer analog

Was in dieser Lage der offenen, demokratischen Gesellschaft weiterhilft? Es steht offenbar kein schnell wirksames Mittel parat. Bis auf Weiteres gibt es nur einzelne Werkzeuge: Hinschauen und Erklären führen weiter als Ignorieren oder Beschönigen. Überschäumende Gefühle führen nie wirklich weit, selbst wenn sie im Dienst einer guten Sache stehen.

Die Bahnen des demokratischen Rechtsstaates lernen plötzlich auch jene schätzen, die ihn früher nur als Kampfbegriff der Konservativen wahrnehmen mochten. Und: Die Werte einer offenen Gesellschaft lassen sich nicht allein in Netzwerken bewahren, ob nun sozial oder nicht. Debatten mögen im Digitalen funktionieren. Mitmenschlichkeit kann nie anders sein als analog. All dies wäre ein Rüstzeug. Eine Lösung ist es noch nicht.