Nizza und Dunkerque im Corona-Lockdown

Nichts geht mehr in Nizza – oder zumindest sehr wenig. In der Stadt am Mittelmeer setzen die Behörden im Kampf gegen das Aufflammen der Corona-Pandemie auf Ausgangssperren. In Teilen der Côte d’Azur – aber auch in Dünkirchen am Ärmelkanal – traten am frühen Samstagmorgen strikte Ausgangsbeschränkungen für das Wochenende in Kraft.

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Die 20 Départements, die mit schärferen Maßnahmen rechnen müssen, sollte sich die Corona-Lage nicht entspannen

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Starker Anstieg der Infektionszahlen

Die beiden Städte im Süden und im Norden Frankreichs sind vor allem von der britischen Variante des Virus stark getroffen worden. In Dünkirchen liegt der Indzidenzwert bei über 900, in Nizza bei knapp 700 Infizierten auf 100.000 Einwohner.

In den von der Ausgangssperre betroffenen Gebieten dürfen die Menschen ihre Wohnungen zwischen Freitagabend um 18 Uhr und Montagmorgen um 6 Uhr für maximal eine Stunde am Tag in einem Fünf-Kilometer-Radius verlassen. In Nizza und Dünkirchen dürfen allerdings Lebensmittelgeschäfte und -märkte auch während der Ausgangssperre geöffnet bleiben.

Für ganz Frankreich gilt bereits eine abendliche Ausgangssperre ab 18 Uhr. Insgesamt drohen in 20 Départements weitere Ausgangsbeschränkungen, weil sich das Virus dort rasant ausbreitet – unter anderem in der Hauptstadt Paris. Premierminister Jean Castex appellierte an die Präfekten dieser 20 derzeit am schwersten von der Pandemie betroffenen Départements, die Corona-Maßnahmen entschlossener durchzusetzen. 

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Nizza gleicht einer Geisterstadt

Die Franzosen scheinen sich mit einigem Murren an die neuen Regeln zu halten, die Stadt Nizza wirkte nach Augenzeugenberichten wie eine Geisterstadt. Nach Polizeiangaben waren in Nizza am Samstag 32 Beamte der Nationalpolizei sowie dutzende städtische Polizisten im Einsatz, um die Einhaltung der Ausgangsbeschränkungen zu kontrollieren. Polizeikommissar Olivier Malaver zog eine positive erste Bilanz. „Im Moment wird die Ausgangssperre in Nizza respektiert“, sagte er.

Allerdings kursieren im Netz auch kurze Videos, die eine Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen zeigen sollen. Es ist allerdings nicht klar, von wann die Bilder tatsäclich sind.

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Der Druck auf die Verantwortlichen ist groß, gegen die Pandemie etwas zu tun. Am vergangenen Mittwoch waren in Frankreich landesweit 31.000 Neuinfektionen mit dem Coronavirus gemeldet worden – so viele wie seit vergangenem November nicht mehr. Premierminister Jean Castex sagte am Donnerstag, fast die Hälfte der Ansteckungsfälle gingen inzwischen auf die zuerst in Großbritannien entdeckte Corona-Mutante zurück. Die Hoffnung ruht in Frankreich auch auf schnelle Impfungen. In den vergangenen Wochen hatte es immer wieder Kritik an dem schleppenden Verlauf und an den zahlreichen Pannen gegeben.

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Mit den sehr lokal und regional begrenzten Ausgangssperren testet die Regierung eine neue Strategie im Kampf gegen das Virus. Die Behörden vor Ort können nun selbst ermessen, ob sie schärfere Beschränkungen verhängen. Ausdrückliches Ziel der Regierung ist es, einen strikten landesweiten Lockdown zu vermeiden. 

Der Terror trifft auf eine verunsicherte Gesellschaft

Frankreich wird immer wieder zum Ziel terroristischer Anschläge. Eine zentrale Rolle spielt das nicht geklärte Verhältnis zwischen dem Islam und der säkularen Gesellschaft.

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Frankreich von Bluttat erschüttert

Frankreich wird zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage von einer brutalen Bluttat erschüttert. In Lyon wurde ein orthodoxer Priester vor seiner Kirche mit einer Schrotflinte angeschossen und ringt nun mit dem Tod. Mit großer Sorge stellen sich viele Franzosen die Frage, ob es sich wieder um einen Terrorakt handeln könnte, doch das ist derzeit noch unklar.

Der Angriff auf den Priester trifft das Land in einer Phase, in der wieder einmal über die Rolle des Islam, Radikalisierung und Zuwanderung gestritten wird. Der Schock über den Angriff eines islamistischen Attentäters in der Basilika Notre-Dame in Nizza sitzt den Franzosen noch in den Knochen. Drei Menschen wurden dabei bestialisch getötet und sechs weitere verletzt. Der Angreifer, ein junger Migrant aus Tunesien, wurde von Polizisten angeschossen und liegt schwer verletzt im Krankenhaus. Erst vor zwei Wochen war der Lehrer Samuel Paty in Paris von einem Attentäter enthauptet worden, nachdem er im Unterricht Karikaturen des Propheten Mohammed gezeigt hatte.

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Innenminister Darmanin will hart gegen Islamisten vorgehen

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Frankreich reagiert hart auf die Bedrohung

Die Politik reagierte, wie sie immer nach solchen Anschlägen reagiert: Premierminister Jean Castex hat die höchste Terrorwarnstufe für das Land ausgerufen. Präsident Emmanuel Macron kündigte an, die Zahl der Soldatinnen und Soldaten zu erhöhen, die Gotteshäuser und Schulen schützen sollen. Natürlich begrüßen die allermeisten Bürger diese Demonstration der Stärke, doch gerade die Angriffe der vergangenen Tage durch radikalisierte Einzeltäter zeigen, dass diese Sicherheit eine trügerische ist. Immer mehr Franzosen stellen sich die Frage, weshalb ausgerechnet ihr Land immer wieder Ziel von solchen Terrorangriffen wird? Im Mittelpunkt steht dabei sehr das Verhältnis der Gesellschaft zum Islam.

Die meisten Erklärungsversuche gehen weit in die Kolonialzeit zurück, als Frankreich etwa in Algerien und anderen afrikanischen Staaten das Sagen hatte. Anfangs noch ignoriert, wurden nach der Arbeitsmigration während der Wirtschaftswunderjahre in den Ballungsräumen um Paris, Lyon oder Marseille die ersten Schwierigkeiten im Zusammenleben deutlich. Wirklich reagiert hat der Staat allerdings erst, als der wachsende Islamismus etwa während des algerischen Bürgerkriegs in den 1990er Jahren zunehmend das Leben in Frankreich bedrohte. In diesem Zusammenhang thematisierten vor allem junge französische Muslime immer lauter die koloniale Vergangenheit Frankreichs, was das schwierige Verhältnis vieler Muslime zur Republik deutlich werden ließ.

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Dem Staat fehlt der Ansprechpartner

Ein zentrales Problem ist auch noch heute, dass es dem Staat in den Reihen der Muslime an verbindlichen Ansprechpartner fehlt. Zwar wurde 2003 der französische Islam-Rat (Conseil français du culte musulman – CFCM) eingerichtet, doch das Problem ist, dass das Gremium nur einen Bruchteil der Gläubigen repräsentiert und weit entfernt davon ist, die französischen Muslime zu repräsentieren. Seine Stimme wird bei den immer wieder mit großem Eifer geführten Diskussionen um das Kopftuch oder Halal-Essen in Schulkantinen kaum gehört.

Wesentlich mehr Erfolg mit der Selbstdarstellung haben in diesem Fall die extremen Rechten in Frankreich, die das Misstrauen in den Islam gezielt schüren. Dabei sind beide Extreme auf unheilsame und zynische Weise in ihrer Argumentation voneinander abhängig. Die Islamisten brauchen die Rechtsextremen, um behaupten zu können, dass die französische Gesellschaft rassistisch ist. Und die extreme Rechte braucht die Islamisten, um die Gefahren durch den Islam aufzubauschen und sich als Verteidiger der christlichen Zivilisation präsentieren zu können.

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Franzosen fürchten die Überfremdung

Allerdings hat die Angst vor Überfremdung längst die Mitte der französischen Gesellschaft erreicht. Das zeigt eine aktuelle Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ifop, der zufolge denken acht von zehn Franzosen, dass der Säkularismus in Gefahr sei. Sie sehen den Islam zunehmend als Bedrohung für den französischen Lebensstil.

Auf der anderen Seite beklagen die Muslime immer lauter, dass sie sich als Fremde im eigenen Land fühlen würden. Der prominente Lyoner Imam Kamel Kabtane kritisierte jüngst eine „zänkische und gefährliche Medien- und Politik-Kampagne gegen Muslime und den Islam“. Mit dieser würden „Franzosen gegen Franzosen“ aufgewiegelt, sagte er. Kritisiert wird auch, dass Muslime nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch in der Schule und bei der Wohnungssuche schlechtere Chancen hätten.

Viele Muslime kapseln sich ab

Nicht zuletzt aus diesem Grund würden viele Muslime beginnen, sich abzukapseln und regelrecht in ihre Gettos zurückzuziehen. Der französische Soziologe Bernard Rougier warnte, dass inzwischen ganze Viertel in französischen Vorstädten mit ihren gesichtslosen Plattenbausiedlungen unter die soziale Kontrolle von Islamisten geraten seien. Diese fänden unter den Abgehängten und frustrierten Jugendlichen viele Anhänger. Mit seinen Thesen wendet er sich auch ausdrücklich gegen die vor allem bei französischen Linken populäre Annahme, dass allein die soziale Misere der Grund für die Gewaltausbrüche junger Muslime sei – andere Begründungen werden von ihnen gerne als „islamophob“ gebrandmarkt.

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Emmanuel Macron über die Lage in Frankreich

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Macron bekämpft den Separatismus

Nachdem schon mehrere französische Präsidenten das „Problem der Vorstädte“ lösen wollten, hat nun auch Emmanuel Macron das Thema für sich entdeckt. Neu an seiner Offensive ist, dass er offen anspricht, dass der „islamistischen Separatismus“ bekämpft werden müsse. Weil etwa zu viele Imame in Frankreich, die im Ausland ausgebildet werden, „gegen die Republik“ predigen würden, will er deren Arbeit in Zukunft verbieten.

Das allerdings sieht etwa der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan als Affront – auch weil viele zahlreiche Imame aus der Türkei kommen und er auf diese Weise ein Mittel der direkten Einflussnahme verlieren würde. Der Hass, mit dem er und viele anderen Staatsmänner der islamischen Welt in den vergangenen Tagen gegen Emmanuel Macron hetzten, wirkt in der angespannten Situation wie ein Brandbeschleuniger. Manche jungen Männern in Frankreichs verlorenen Vororten könnten diese Tiraden als Aufforderung zum Handeln verstehen.