„Es droht ein Bersten der Gesellschaft“

Cem Özdemir, Parteichef der Grünen, sieht in der Türkei einen „zivilen Putsch“ am Werke. Er  sieht „von außen“ derzeit kaum Einflussmöglichkeiten auf die Geschehnisse in der Türkei. Er verlangt gegenüber Präsident Erdogan aber eine klare Haltung.

Ein Interview:

16.07.22-Özdemir

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Herr Özdemir, überkommt Sie zwischendurch der Gedanke, es wäre besser gewesen, wenn der Putsch türkischer Militärs Ende voriger Woche Erfolg gehabt hätte?

Nein, wer die Geschichte der Militärputsche in der Türkei kennt, der weiß, da hat man nichts Gutes zu erwarten. Aber klar ist auch: die Alternative zum Militärputsch kann nicht der zivile Putsch sein. Genau der findet zurzeit statt.

Präsident Erdogan versucht alle tatsächlichen oder vermeintlichen Opponenten aus ihren Ämtern zu vertreiben und ein islamisches Präsidialsystem zu errichten. Ist er noch zu stoppen?

Um es ironisch zu formulieren: Aktuell kann wohl nur er selbst sich stoppen, und das versucht er ja auch gerade. Erdogan ist für sich selbst der größte Feind. Weil er ständig an der Schraube der Eskalation dreht, gefährdet er das Modell Erdogan. Das wird die Gesellschaft irgendwann zum Bersten bringen. Man muss Schlimmstes befürchten für die Türkei.

Bis hin zum Bürgerkrieg?

Es ist zu befürchten, dass das, was bisher als bewaffneter Kampf zwischen PKK und staatlichen Sicherheitskräften ausgetragen wird, auf die Zivilgesellschaft übergreift. Da kann ich nur sagen: Gott behüte!

Deshalb noch einmal die Frage: Wer kann Erdogan stoppen?

Nach Lage der Dinge wohl nur Kräfte in seiner eigenen Partei AKP. Durch den wirtschaftlichen Erfolg des Landes zu Beginn seiner Amtszeit hat Erdogan viele Anhänger gefunden. Dies alles setzt er aufs Spiel. Ich kann mir nicht vorstellen, dass mit einem geschwächten Beamten-, Polizei- und Militärapparat die Sicherheit der Türkei aufrechterhalten und die Wirtschaft auf ihrem heutigen Niveau gehalten werden kann. Willkürherrschaft ist kein gutes Klima für Investitionen, Wachstum und Jobs.

Erdogans Druck auf alle Andersdenkenden ist enorm stark. Müssen wir uns darauf einstellen, bald die ersten Asylbewerber aus der Türkei in Deutschland zu haben?

Ja, ich gehe davon aus, dass die Zahlen nach oben gehen. Ich kenne viele in der Türkei, die sich gerade die Frage stellen, ob sie nicht dauerhaft nach Europa gehen, weil sie den Kampf um Demokratie und Freiheit als verloren ansehen.

Wie sollte Berlin reagieren, wenn jetzt ein türkischer Journalist nach Deutschland kommt und erklärt, er werde in seiner Heimat politisch verfolgt?

Ich wüsste nicht, mit welchem Argument man ihm das Asyl verwehren könnte. Genau für solche Fälle haben wir das Asylrecht. Nach dem Flüchtlingsabkommen mit Ankara müsste die deutsche Regierung jetzt eigentlich ein Programm auflegen für Künstler, Journalisten und Wissenschaftler, das ihnen die Möglichkeit gibt, in Europa einen Platz zu finden. In der Türkei haben sie den im Moment nicht. Wie wäre es, wenn Frau Merkel beim nächsten Türkeibesuch der Erdogan-kritischen Zeitung Cumhuriyet ein Interview gäbe. Das wäre ein starkes Signal, dass unsere Solidarität den Demokraten in der Türkei gilt. Die haben gerade das Gefühl, dass wir sie verraten.

Kann der Flüchtlingsdeal, den die EU mit Erdogan eingegangen ist, noch fortgelten?

Wir als Grüne hatten schon vor dem Putsch viele kritische Fragen, auf die wir von der Bundesregierung wenig befriedigende Antworten bekommen haben. Zum Beispiel nach den Schüssen türkischer Soldaten auf Flüchtlinge an der Grenze zu Syrien. Zum Beispiel nach der Möglichkeit des Islamischen Staates, in der Türkei relativ ungehindert Kämpfer zu rekrutieren. Jetzt stellt sich natürlich eine neue Frage: Wie kann ich sagen, dass Flüchtlinge aus anderen Ländern in der Türkei angeblich sicher sind – aber die Bürger der Türkei selbst sind es nicht?

Ist das Flüchtlingsabkommen also tot?

Ich will nicht sagen, dass eine grüne Regierung nicht mit den Putins und Erdogans dieser Welt reden würden. Aber das kann nicht heißen, dass man Augen zu und durch sagt. Genauso wird beim Flüchtlingsabkommen gehandelt.

Welche Druckmittel würden Sie denn der EU empfehlen, um Erdogan zu beeinflussen?

Viele gibt es da nicht mehr. Der Hebel der EU-Beitrittsverhandlungen bricht uns auch gerade weg. Herrn Erdogan geht es längst nicht mehr um die EU, sondern um den eigenen Machterhalt. Dem hat sich alles andere unterzuordnen. Seine Existenz, auch die seiner Familie und Entourage, hängt an dieser Macht. Darum sind die Möglichkeiten, von außen Einfluss zu nehmen, begrenzt. Was wir aber machen können: Ehrlichkeit in die Debatte bringen…

Was heißt das konkret?

Wir dürfen nun keine neuen Kapitel in den EU-Beitrittsgesprächen eröffnen. Dann würden alle zu Recht sagen: wir haben doch ein Rad ab! Die Beitrittsverhandlungen sind de facto Gespräche, in denen wir so tun, als hätte die Türkei eine faire Chance auf einen Beitritt – und die Türkei tut so, als ob sie daran Interesse hätte. Beides stimmt nicht. Deshalb gehören die Beitrittsverhandlungen auf Eis gelegt. Wir sollten sie aber nicht grundsätzlich abbrechen. Eine demokratische Türkei hat einen Platz in Europa – aber nicht die Erdogan-Türkei.

Die Pogromstimmung, die Erdogan erzeugt, greift auf Deutschland über. Auch hier haben viele Türken Angst vor Übergriffen durch Landsleute. Wie kann man das stoppen?

Das hängt von den Signalen der deutschen Politik ab. Der Arm Erdogans reicht weit, aber er hat hier in Deutschland nichts verloren. Ich erwarte, dass wir die Maßstäbe, die wir an die deutschen Pegidas anwenden auch bei der türkischen Pegida ansetzen, der Türkida. Um es konkret zu machen: Wer mit dem Pegida-Anführer Lutz Bachmann befreundet ist und gemütlich Kuchen essen geht, der kriegt hier Probleme. Wer sich aber mit den türkischen Lutz Bachmanns trifft, und das haben wir bislang an den Spitzen von Staat und Parteien getan, der kommt damit durch. Zum Fastenbrechen gehen und Ringelpiez-mit-Anfassen mit Leuten spielen, die ein Problem mit unserem Grundgesetz haben aber nicht mit dem Erdogan-Fanatismus – das geht künftig nicht mehr. Unser Ministerpräsident hat deshalb richtig gehandelt, als er die Morddrohungen gegen Abgeordnete beim Fastenbrechen in Stuttgart angesprochen hat. Diese Klarheit wünsche ich mir auch in Berlin beispielsweise im Umgang mit der Türkischen Gemeinde zu Berlin

Die türkische Union DITIB ist aber an vielen Stellen Ansprechpartner für Deutsche.

Ja, aber wer hier öffentliche Mittel in Anspruch nimmt, muss mit beiden Füßen auf dem Boden des Grundgesetzes stehen – nicht nur mit Zehenspitzen. Wer DITIB in die Schulen lässt, muss wissen, dass nicht die Kölner Zentrale den Ton angibt, sondern Erdogan. Dessen Gedankengut darf nicht in unsere Schulen kommen.

Sie selbst haben Missgunst und Hass vieler Türken auf sich gezogen. Würden Sie sich derzeit in die Türkei trauen?

Es geht nicht ums trauen, aber es wäre sicher keine sehr kluge Idee, das gegenwärtig zu machen.

 

Hier der Link zur Stuttgarter Zeitung mit einem kurzen Video-Interview

Cool down, Recep!

Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan zerstört mit seiner irrationalen, ans Hysterische grenzende Politik das Verhältnis zu Deutschland.

Ein Kommentar:

15.04.08-Erdogan

Erdogan reagiert überaus empfindlich.

Kopfschütteln über Erdogan

Aus der Türkei dringen wunderliche Nachrichten in die Welt. So hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan seine Teilnahme an der Trauerfeier für Boxlegende Muhammad Ali in den USA abgesagt, weil er bei der Zeremonie keine Koranverse vortragen durfte. Kopfschütteln haben auch seine Blut-und-Boden-Reden in Richtung der türkischstämmigen deutschen Abgeordneten ausgelöst.

Diese Absonderlichkeiten könnten ignoriert werden, wären sie nicht Sinnbild für eine allgemeine  Stimmung in der Türkei. In der Politik gibt die Irrationalität den Takt vor, eine  kalkulierbare Linie ist kaum auszumachen. Selbst diplomatisch vorgetragene Kritik wird vom Präsidenten als Majestätsbeleidigung verstanden. Erdogan überschreitet eine rote Linie nach der anderen –  und ist dann empört über den erwartbaren Widerspruch. Diese hysterische Gereiztheit des Staatschefs hat sich längst  auf das Volk übertragen. Das erklärt, dass dem türkischstämmigen Grünen-Chef Cem Özdemir die Ehrenbürgerwürde des  Heimatdorfes seines Vater aberkannt worden ist, weil er die Armenien-Resolution im Bundestag vorbereitet hat. Erdogan ist dabei, das Verhältnis zu Deutschland  zu zerstören. Berlin muss der Balanceakt gelingen, den Staatschef diplomatisch in die Schranken zu weisen – ohne den politischen Flurschaden  zu vergrößern.

Özdemir warnt vor einem Bürgerkrieg in der Türkei

Cem Özdemir gelingt ein Besuch in der umkämpften kurdische Stadt Cizre. In der lange abgeriegelten Stadt fanden in den vergangenen Tagen schwere Kämpfe statt.

Özdemir – hier bei einem Besuch im Nordirak – kritisiert die türkische Regierung.

Das Ende der Stabilität

In der Türkei bestehe angesichts der eskalierenden Gewalt die Gefahr eines Bürgerkrieges. Das sagte  Grünen-Chef Cem Özdemir nach dem Besuch in der umkämpften Stadt Cizre.  „Man muss aufpassen, dass es sich nicht in diese Richtung entwickelt. Von politischer Stabilität kann in der Türkei längst keine Rede mehr sein.“ In Cizre war es in den vergangenen Tagen zu schweren Zusammenstößen zwischen  Sicherheitskräften und Kämpfern der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK gekommen. Ausgehsperren wurden verhängt und Sicherheitskräfte riegelten die Stadt von der Außenwelt ab. Özdemir zeigte sich sichtlich beeindruck durch die Zerstörungen in Cizre,  „eine völlig neue Dimension erreicht haben“. Man könne nur erahnen, mit welcher Brutalität die Angriffe geführt worden seien, sagte er. Özdemir forderte die  Regierung und die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK zu einer sofortigen Waffenruhe auf. „Der Ort zur Lösung der kurdischen Frage ist das Parlament“, so der Politiker, der auf seiner Reise von der  Fraktionsvorsitzenden der Grünen im Europaparlament, Rebecca Harms begleitet wurde.

Kritik an Erdogan

Özdemir äußert sich allerdings  skeptisch, dass die Verantwortlichen in Ankara den  Verhandlungsweg einschlagen werden.   Er wirft  Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan vor, auf eine „innenpolitische Verschärfung“ der Lage gesetzt zu haben. Grund sei, dass Erdogans islamisch-konservative AKP bei der Parlamentswahl im Juni die von ihm gewünschte verfassungsändernde Mehrheit verfehlt habe. „Er hat das Land ohne Not in eine Krise gestürzt.“ Nach dem Scheitern von Koalitionsverhandlungen hat Erdogan für den 1. November Neuwahlen ausgerufen.

An Ansehen verloren

Durch das Verhalten des Präsidenten habe die Türkei in der internationalen Staatengemeinschaft an Ansehen verloren. Der Westen müsse versuchen, seinen Einfluss auf Ankara geltend zu machen. „Als Nato-Mitglied und EU-Beitrittskandidat muss die Türkei erkennen, dass sich das Land an demokratische Grundsätze halten muss“, erklärt Özdemir. Rücke Ankara nicht von seinem Konfrontationskurs mit den Kurden ab,  sollte der Westen prüfen, ob das G-20-Treffen im November in Antalya stattfinden soll. Das wäre, so Özdemir, ein deutliches Signal an Erdogan.

Kräftemessen mit dem rechten Mob

In Heidenau kommt es zum Kräftemessen zwischen der Demokratie und dem rechten Mob. Eigentlich sollte in der sächsischen Stadt an diesem Wochenende ein Zeichen gegen Rassismus gesetzt werden. Für Freitagnachmittag war ein Willkommensfest für Flüchtlinge geplant. Doch auch Rechte meldeten eine Demonstration an – gegen die Flüchtlingsunterkunft. Die Polizei verfügte daraufhin ein Versammlungsverbot. Begründet wurde das mit einem polizeilichen Notstand.

 Das Bild zeigt Cem Özdemir im Nordirak während seines Besuchs bei einer Flüchtlingsfamilie.

Özdemir ignoriert das Verbot

Davon will sich der Grünen-Chef Cem Özdemir nicht abhalten lassen. Er wolle das Versammlungsverbot ignorieren und in Heidenau auf die Straße gehen, sagte er im ARD-„Morgenmagazin“. „Ich kann nicht akzeptieren, dass es rechtsfreie Räume in der Bundesrepublik Deutschland geben kann: da, wo der Freistaat Sachsen zurückweicht vor dem Druck der Rechtsradikalen“, sagte Özdemir. Die politischen Gegner Özdemirs werden ihm nun vorwerfen, dass er sich auf Kosten der Flüchtlinge profilieren möchte. Doch dieser Vorwurf geht daneben. Özdemir sorgt sich schon lange um das Schicksal der Menschen, die ihre Heimat verlassen musste. So reiste er durch den Nordirak, um dort die Flüchtlingslager zu besuchen und setzte sich in seiner Partei gegen großen Widerstand dafür ein, die Kurden im Kampf gegen den Islamischen Staat zu bewaffnen.

Nicht genug Polizisten?

Das Versammlungsverbot in Heidenau gilt von Freitagmittag bis Montagmorgen. „Es ist doch nicht akzeptabel, dass die sächsische Staatsregierung sagt: ‚Wir haben nicht genug Polizisten’“, sagte Özdemir. Andere Bundesländer würden sicher helfen. Es gehe nicht, dass man vier Tage lang die Demokratie außer Kraft setze. „Ich fahre dahin“, sagte der Bundestagsabgeordnete. Er forderte andere auf mitzukommen. „Wir werden zeigen: Dieser Rechtsstaat ist nicht wehrlos.“

Kleine Anmerkung: Die Polizei arbeitet beim Kampf gegen den Rechten Mob in Heidenau sicherlich am Rande der Belastung. Aber kann es sein, dass jedes Wochenende Tausende Polizisten zum Schutz bei Bundesligaspielen abgestellt werden und der Schutz der Demokratie weniger wiegt?

Nachtrag:

Das vom Landratsamt Pirna erlassene Versammlungsverbot für das Wochenende in Heidenau ist „offensichtlich rechtswidrig“. Das teilte das Verwaltungsgericht Dresden nach einer Eilentscheidung am Freitagmittag mit (Az. 6 L 815/15).

Der ewige Streit um das Wort Völkermord

Die Türkei weigert sich auch 100 Jahre nach dem Massaker an den Armeniern, zu ihrer historischen Verantwortung zu stehen. Nun hat Papst Franziskus I. türkische Verfolgung des Volkes als „ersten Genozid des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet.

15.04.15-armenienArmenische Flüchtlinge in einem Lager in Syrien

Der Papst redet „Unsinn“. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan findet deutliche Worte zu den Aussagen von Franziskus über den Völkermord an den Armeniern. „Ich möchte ihn dafür rügen und warnen“, fügte Erdogan an, solche Aussagen zu wiederholen. Den Staatschef ärgert die internationale Aufmerksamkeit zum hundertsten Jahrestag des Beginns der Massaker am 24. April 1915 – zumal sich Ankara weigert, die eigene Verantwortung an den Taten anzuerkennen.

Eine deutliche Sprache

Dabei sprechen die Dokumente jener Zeit eine deutliche Sprache. Da ist etwa jene Depesche aus Konstantinopel vom 7. Juli 1915: „Die Umstände und die Art, wie die Umsiedlung durchgeführt wird, zeigen, dass die Regierung tatsächlich den Zweck verfolgt, die armenische Rasse im türkischen Reich zu vernichten.“ Hans Freiherr von Wangenheim, damals deutscher Botschafter im Osmanischen Reich, war offensichtlich unsicher, wie er auf die ersten Deportationen und Massaker reagieren sollte. Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg erstickte die Zweifel des Diplomaten im Keim: „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber die Armenier zugrunde gehen oder nicht.“

Das deutsche Kaiserreich hätte Einflussmöglichkeiten gehabt

Damit schien das Schicksal des kleinen christlichen Volkes besiegelt. In Armenien wird diese Katastrophe „Aghet“ genannt – und als Völkermord bezeichnet. In der Türkei dagegen, dem Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches, gilt das Leid offiziell noch immer als „kriegsbedingte Vertreibung und Sicherheitsmaßnahme“. Auch über die Opferzahlen wird gestritten. Zwischen 300 000 und 1,5 Millionen Menschen sollen ums Leben gekommen sein.

Das deutsche Kaiserreich war damals Bündnispartner der osmanischen Regierung und hätte die Möglichkeit gehabt, auf die Machthaber in Konstantinopel einzuwirken. Schon lange vor Beginn des Ersten Weltkrieges waren deutsche Offiziere am Bosporus, um das osmanische Heer zu modernisieren. Nach Ausbruch des Krieges gewannen diese Militärexperten weiter an Einfluss, zudem lieferte das Kaiserreich Waffen und Munition. Heute stellt sich die Frage, ob die Rolle Berlins über die stillschweigende Duldung des Massenmordes an den Armeniern hinausging. Unbestritten unter Historikern ist, dass die Deutschen in die Deportationen tiefer verstrickt waren als lange   angenommen.

Der Beginn des Mordens

Der Beginn des Völkermordes wird auf den 24. April 1915 datiert. Damals ließ die Regierung in Konstantinopel armenische Intellektuelle und hohe Repräsentanten deportieren und ermorden. Doch schon zuvor war es zu Vertreibungen und Massakern gekommen. Nach militärischen Rückschlägen zu Beginn des Ersten Weltkrieges kam es vermehrt zu Bluttaten, da man den Armeniern Verrat vorwarf.

Im Anschluss an die ersten groß angelegten Deportationen wurden die Armenier in Richtung der syrischen Wüste getrieben. Die meisten Männer wurden noch vor den Deportationen verschleppt und ermordet. Die Vertriebenen wurden auf ihrem Weg nach Mesopotamien angegriffen, Frauen wurden vergewaltigt, Kinder verschleppt. Hunger, Durst und Krankheiten ließen die Opferzahl steigen.

Die Weigerung der Türkei

Auch 100 Jahre nach dem Genozid weigert sich die Türkei, zu ihrer historischen Verantwortung zu stehen. Staatschef Recep Tayyip Erdogan beklagte jüngst eine Kampagne: Es werde versucht, mit „Völkermord“-Behauptungen Feindseligkeiten gegen die Türkei zu schüren. Es sei nicht richtig, im Zusammenhang mit den Gräueltaten von Genozid zu sprechen.

Erdogan will   vermeiden, dass das Massaker zum 100. Jahrestag als Genozid anerkannt wird. Aus diesem Grund schlägt er vor, eine Historikerkommission einzuberufen. Das signalisiert Gesprächsbereitschaft und würde die Sache bis weit über den 24. April hinaus verschleppen. Wenn die Experten ihre Arbeit gemacht hätten, solle das Ergebnis den Politikern vorgelegt werden. Die Armenier halten Erdogans Idee einer Expertenkommission für Unsinn. In ihren Augen muss über die Tatsache des Völkermordes nicht mehr diskutiert werden.

Präsident Erdogan versucht vom Termin abzulenken

Damit am 24. April nicht die ganze Welt nach Eriwan blickt, wo die Feierlichkeiten zum Jahrestag stattfinden, hat sich Erdogan etwas einfallen lassen. Der Staatschef veranstaltet selbst ein Fest, zu dem er Dutzende Staatsgäste eingeladen hat. Allerdings wird nicht der Armenier gedacht, sondern der Schlacht von Gallipoli. Jener Auseinandersetzung, als die Türken im Ersten Weltkrieg den Angriff der Entente-Mächte (Großbritannien, Frankreich, Russland) an der Meerenge der Dardanellen zurückschlugen.

Eine spannende Gästeliste

Welche Repräsentanten zum Gallipoli-Jubiläum reisen, steht noch nicht fest. Spannender ist ein Blick auf die Gästeliste der Feierlichkeiten im armenischen Eriwan. Deutschland hat sich bisher zwar für die „unrühmliche Rolle“ des Kaiserreiches entschuldigt, vermeidet aber bis heute, von einem Völkermord an den Armeniern zu sprechen. Das bedeutet, dass keine hochrangige Delegation zum zentralen Gedenken reist. Frankreich hat sich anders entschieden. Geplant ist, dass Staatspräsident François Hollande an den Feierlichkeiten teilnimmt.

Zur Information:

Forderung: Der Zentralrat der Armenier in Deutschland hat von der Bundesregierung  die Anerkennung des Völkermordes vor 100 Jahren im Osmanischen Reich gefordert. Ein solcher Schritt hätte eine positive Wirkung auf die türkische Gesellschaft und wäre mit keinerlei Rechtsansprüchen der Opfer gegenüber Deutschland verbunden, sagte die stellvertretende Vorsitzende Madlen Vartian.

Parlamente: Bislang haben den Angaben zufolge 22 Parlamente weltweit die Vernichtung der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich als Völkermord verurteilt, darunter die EU-Staaten Frankreich, Niederlande, Italien, Griechenland, Zypern, Slowakei, Schweden sowie das EU-Parlament und Papst Franziskus.

„Die Bundesregierung kuscht vor Erdogan“

Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir fordert, dass auch Deutschland den Völkermord an den Armeniern anerkennt und als solchen benennt.

15.04.14-özdmir

Hier mein Interview mit Cem Özdemir

FRAGE: Herr Özdemir, was hat in der Türkei vor 100 Jahren stattgefunden? Ein Völkermord oder war es lediglich eine Vertreibung der Armenier?

ANTWORT: Die Wissenschaft ist sich weltweit einig, was damals stattfand: Ziel der jungtürkischen Führung war es, das armenische Volk auszulöschen – und die christlichen Assyrer im Windschatten gleich mit. Die Völkerrechtler sprechen daher von einem Völkermord, die Türkei hingegen von einem Massaker und Vertreibungen. Bedauerlicherweise schließt sich dieser Diktion auch die Bundesregierung in Berlin immer noch an. Aber der Ort, wo die Armenier hingebracht werden sollten, nämlich die syrische Wüste, war ja nicht für ihr Glück bestimmt. Die Menschen sollten dort oder auf dem Weg dorthin elendiglich sterben.

FRAGE: Sie haben angedeutet, dass die Bundesregierung eine klare Positionierung vermeidet. Verstehen sie das?

ANTWORT: Als wir uns vor zehn Jahren im Deutschen Bundestag in einem Antrag zum ersten Mal mit dem Thema beschäftigt haben, fand sich der Begriff Völkermord in der Begründung, aber nicht im eigentlichen Text des Antrages. Man ist damals davon ausgegangen, dass die Türkei das Thema Armenien im Zuge der Annäherung an die Europäische Union selbst aufgreifen und sich damit auseinandersetzen würde. Dass sich die Beziehungen zwischen Armenien und der Türkei normalisieren und am Ende auch die Grenze zwischen den beiden Staaten geöffnet würde. Dieser Prozess sollte damals nicht torpediert werden. Heute müssen wir sagen, dass die Türkei diese Chance verpasst hat. Vor kurzem sind die Gespräche zwischen Armenien und der Türkei de facto gescheitert.

FRAGE: Woran der türkische Präsident Erdogan einen wesentlichen Anteil hat.

ANTWORT: Ich habe den Eindruck, dass Präsident Erdogan für die Lösung solcher Probleme keine wirkliche Agenda hat. Politisch verharrt er im Moment in einer Art neo-osmanischer Träumerei. Das Thema Europa, Demokratisierung, Modernisierung spielt da keine Rolle. Es ist daher falsch, aus Rücksichtnahme auf Ankara die klare Benennung als Völkermord zu vermeiden. Im Gegenteil – die damalige Rolle des Deutschen Kaiserreiches verpflichtet uns, für eine offene Auseinandersetzung mit den Ereignissen von damals einzutreten. Dass sich die Bundesregierung aber auch die Koalitionsfraktionen hier wegducken, ist beschämend.

FRAGE: Das Kaiserreich war damals der wichtigste Verbündete des osmanischen Reiches. Wie groß ist die Verantwortung Deutschlands am Völkermord an den Armeniern?

ANTWORT: Die Dokumentenlage ist da sehr eindeutig. Die deutsche Führung wusste, dass ein Völkermord stattfindet und es gab eine klare Anweisung, nicht einzuschreiten. „Hart, aber nützlich“, war der zynische Kommentar eines deutschen hochrangigen Militärs. Angesichts dieser Faktenlage ist mir vor allem die Position des Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU, Volker Kauder, rätselhaft. Er ist bekannt dafür, sich immer für die Christen in der Welt einzusetzen. Aber für die Armenier, das älteste christliche Volk auf der Welt, ist in seinem Herzen offensichtlich kein Platz.

FRAGE: Glauben Sie wirklich, dass sich Erdogan dadurch beeindrucken lässt, wenn Deutschland das Leid der Armenier als Völkermord bezeichnet.

ANTWORT: Mir ist in diesem Fall Präsident Erdogan nicht so wichtig. Zentral ist es, dass die deutlichen Worte der Bundesregierung von den Menschen in der Türkei gehört würden. In der Zivilgesellschaft wird offen vom Völkermord an den Armeniern gesprochen. Diese Menschen, die eine moderne Türkei wollen, sollten die Solidarität der deutschen Regierung spüren. Ich versteh nicht, weshalb die Bundesregierung statt dessen weiter vor Präsident Erdogan kuscht.

FRAGE: Wie kann Deutschland der Türkei in Sachen Erinnerungskultur helfen?

ANTWORT: Deutschlands Erfahrungen mit den Abgründen der eigenen Geschichte hat gezeigt, dass ein kritischer Umgang mit der eigenen Vergangenheit nicht zum eigenen Schaden gereicht. Ganz im Gegenteil, dass man daran wachsen und etwas für die Zukunft lernen kann. Und wir sind es aus Demut und Respekt den Opfern und ihren Hinterbliebenen schuldig.

Infos zur Person: Cem Özdemir (49) ist seit 2008 Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen. Er ist im baden-württembergischen Bad Urach aufgewachsen. 1994 zog er als erster Parlamentarier mit türkischen Wurzeln in den Deutschen Bundestag ein.

Hier der Link zur Interview in der Stuttgarter Zeitung