Palmer und die Chance zum Nachdenken

Boris Palmer provoziert gerne – auch mit seinem Interview zur Flüchtlingsfrage im „Spiegel“. Dass viele Grüne entsetzt sind, ist mehr als  verständlich. Es wäre aber auch die Chance, in der Partei über Lösungen der Flüchtlingskrise nachzudenken.  

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Der Spott ist Palmer sicher

Palmer der Provokateur

Boris Palmer erzählt gerne Geschichten aus seinem Alltag als Oberbürgermeister. Eine geht so: Er gehe oft über den Marktplatz und werde dort immer wieder von Leuten angesprochen. Die würden dann Antworten fordern auf Probleme, die in der Stadt anlägen. Da könne man dann nicht zaudern, sagt der Tübinger OB, man müsse den Kopf hinhalten. Das gilt auch für die Frage der Unterbringung von Flüchtlingen.

Immer wieder hat Palmer darauf hingewiesen, dass das gerade in Tübingen – einer Studentenstadt mit wenig Leerstand – ein sehr großes Problem sei. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite ist Palmer natürlich auch ein begnadeter Provokateur. Es scheint ihm bisweilen einen gewissen Spaß zu bereiten, für politischen Aufruhr zu sorgen – vor allen in seiner eigenen Partei.

Dafür hat er nun wieder mit seinem Interview im „Spiegel“ gesorgt. Dort hat der OB seine altbekannte Position noch einmal bekräftigt, dass die unkontrollierte Einwanderung beendet werden müsse. Das bedeute nicht, dass man niemanden mehr nach Europa oder nach Deutschland lassen, so die Idee Palmers, aber „wir entscheiden, wer reinkommt.“ Das heißt für ihn auch: die EU-Außengrenzen sollen mit einem Zaun und bewaffneten Grenzern gesichert werden. So könnten deutlich mehr Flüchtlinge abgewiesen werden.

Aufschrei der Grünen

Dass eine solche Position für einen Aufschrei bei den Grünen – und nicht nur dort – sorgt, ist vorprogrammiert. Allerdings stellt sich die Frage: Was wollen die Parteigenossen Palmers, die ihn nun rüde angehen? „Wer Zäune und Mauern zur Begrenzung der Einwanderung von Flüchtlingen fordert, spielt in erster Linie rechten Hetzern in die Hände“, wirft ihm Parteichefin Simone Peter vor. Eine solche Attacke erweckt den Eindruck, da solle einer mundtot gemacht werden.

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Palmer in einer Karikatur der Grünen Jugend

Aber genau das Gegenteil muss der Fall sein. Jetzt muss offen diskutiert werden, nach welchen Regeln Flüchtling zu uns kommen dürften. Ob zum Beispiel bittere Armut als Fluchtgrund anerkannt wird. Es muss darüber geredet werden, unter welchen Umständen jemand legal nach Europa kommen kann. Das heißt aber auch, dass Menschen, die diese Kriterien nicht erfüllen, an der Grenze abgewiesen werden. Diese Diskussion verlangt, dass die Protagonisten Stellung beziehen – und davor haben sich die Grünen bisher gedrückt. Die meisten Vorschläge gehen im Grund nicht über allgemeine Bekenntnisse hinaus, detaillierte Entwürfe zu einem Einwanderungsgesetz fehlen.

Es fehlt ein Konzept

Die Grünen in Berlin sonnen sich gerne im Erfolg ihrer Partei in Baden-Württemberg. Dieser Erfolg ist vor allem dem großen Realitätssinn ihrer Protagonisten im Südwesten geschuldet. Auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat sich deswegen schon mit der Führungsetage im Bund angelegt. Boris Palmer, Kretschmann und auch Dieter Salomon in Freiburg sind in der Verantwortung und sie müssen fast täglich die Diskussionen führen, denen sich Grüne Parteiführung in Berlin bisher verweigert. Die Partei muss und kann nicht mit Palmers Aussagen zur Flüchtlingspolitik übereinstimmen – es wäre aber an der Zeit, an der Realität orientierte, tragfähige Konzepte für die Zukunft zu entwickeln.

 

Nachtrag:

Und hier geht es zur Berichterstattung in der Stuttgarter Zeitung zu dem „Fall Palmer“

 

Scharfe Kritik der Grünen an Boris Palmer

Boris Palmer sorgt weiter für Unruhe bei den Grünen. Der Tübinger OB hat im Widerspruch zur Linie seiner Parteiführung eine Beschränkung des Familiennachzugs bei Flüchtlingen ins Gespräch gebracht. Seine Parteigenossen reagieren gereizt. Die Angst wächst, dass Palmers Äußerungen den Grünen im Wahlkampf schaden.

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Der Eintrag auf Facebook ist kurz – aber deutlich:

„70% für Obergrenze. Schweden sagt, Flüchtlinge sollen in Deutschland bleiben. Ich finde, die Menschen debattieren die Flüchtlingskrise realistischer als die Politik. Es wird wirklich Zeit, diese Themen aufzugreifen. Sonst ist der Aufstieg rechter Parteien nicht mehr aufzuhalten.“

Hier der Link zu dem FB-Eintrag

Mit dieser Aussage rührt Palmer allerdings an der Linie seiner Parteiführung. Vor allem in der Berliner Bundestagsfraktion macht sich Unmut über den Tübinger Realo breit. „Der Schaden im baden-württembergischen Wahlkampf wird durch Boris immer größer. Er sollte sich jetzt mal zusammenreißen“, sagte der innenpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Volker Beck, dem „Handelsblatt“ (online). Hier der Link zum Handelsblatt

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Hier der Link zum Twitter-Account von Volker Beck

Ziemlich viele reagieren genervt
Auch im Südwesten zeigen sich die Grünen zunehmend genervt vom unbequemen Tübinger. „Boris Palmer gibt den lieben langen Tag Kommentare auf Facebook von sich“, sagten die Grünen-Landesvorsitzenden Thekla Walker und Oliver Hildenbrand. Zu Palmers jüngstem Vorstoß könne und wolle man sich nicht äußern.Die Landessprecherin der Grünen Jugend, Lena Schwelling, kritisierte Palmer hingegen scharf: „Diese Äußerung bewerten wir mehr als kritisch. Damit stellt Boris Palmer sich erneut ins Abseits und verlässt nicht nur die Grünen-Linie, sondern trampelt auf den Grundwerten herum, die unsere Gesellschaft zusammenhalten.“ Die Partei habe auf allen Ebenen deutlich gemacht, dass sie Palmers Haltung nicht teilt.

In allen Parteien ist das Thema umstritten

Das Thema ist allerdings nicht nur bei den Grünen umstritten. Mit einem ähnlichen Vorstoß, den Familiennachzug bei Flüchtlingen aus Syrien zu unterbinden, war Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) in der großen Koalition zunächst nicht durchgedrungen. CSU-Chef Horst Seehofer und Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) schlossen sich de Maizière jedoch an und forderten, Syrern nur noch einen sogenannten subsidiären Schutz zu gewähren. Das bedeutet, den Aufenthalt auf ein Jahr zu begrenzen und den Familiennachzug zu verbieten.

Die Folgen des Familiennachzugs erklären

Palmer schreibt weiter auf seiner Facebook-Seite: „Wir können uns ja entscheiden, den Familiennachzug zu gewähren. (…) Wer das aus Menschlichkeit für geboten hält, muss dafür eine Mehrheit gewinnen und allen die Folgen erklären. Das fordere ich ein. Das passiert nicht“, schrieb Palmer. „Ich habe mich nicht für oder gegen den Familiennachzug ausgesprochen.“ Der OB hatte schon im Oktober gefordert, den Zuzug von Flüchtlingen zu begrenzen und damit interne Querelen bei den Grünen ausgelöst.

Dass Palmer ein heißes Eisen angefasst hat, zeigen allein die Kommentare zu seinem Statement auf der Facebook-Seite. Am Montag legte Palmer angesichts der Aufregung noch einmal nach. Er schreibt:

„Die Debatte über dieses Thema kommt wie die gesamte Asyldebatte nicht ohne den Rückgriff auf die Nazizeit, Verfassungsbruch, Unmenschlichkeit und das Versenken in der Schublade Pegida und Rechtsextrem aus. Das vergiftet unser gesellschaftliches Klima. Wer Flüchtlingen helfen will, sollte Hilfsbereitschaft nicht anordnen, sondern für diese Haltung werben. Warum ist die Debatte jetzt unvermeidlich? Ganz praktisch, weil mehrere Minister der Bundesregierung sie begonnen haben. Sie ist da und beschäftigt die Menschen.“

Hier der Link zum gesamten FB-Beitrag von Palmer

Die Experten sind uneinig
Nach Ansicht des Kommunikationswissenschaftlers Frank Brettschneider wirken sich Palmers Äußerungen für die Grünen negativ auf die anstehende Landtagswahl im kommenden Jahr aus. Es sei schädlich, wenn sich eine Partei vor Wahlen mit sich selbst, statt mit dem politischen Gegner beschäftige, sagt Brettschneider. „Damit erhält das bislang in dieser Frage geschlossene Bild der Grünen Risse. Es ist dann auch schwerer, anderen Parteien Zerrissenheit vorzuwerfen.“
Der Tübinger Politologe Hans-Georg Wehling glaubt dagegen nicht, dass Palmer mit seinen Äußerungen den Wahlkampf der Grünen gefährdet. Im Gegenteil – Wehling zählt den 43-jährigen, studierten Mathematiker im Tübinger Rathaus zu einer Handvoll herausragender Grüner. „Die Grünen können glücklich sein, dass sie Palmer haben“, sagt Wehling. Palmer spreche vielen Bürgern aus dem Herzen. Viele ur-grüne Grundwerte seien angesichts der Flüchtlingskrise längst von der Realität überholt. Palmer sei ein Praktiker, der im Tübinger Rathaus die Flüchtlingskrise managen muss. „Die Grünen sind gut beraten, ihm zuzuhören.“