Eine „Friedensdemo“ als Provokation

Alle sind entsetzt: Türken und Kurden, die Verbände, die Politiker. Dabei waren die Eskalation am Rande der AYTK-Demos – unter anderm in Stuttgart – vorhersehbar. Die Bilanz in Stuttgart: Mehr als 50 verletzte Polizisten, vier von ihnen sind vorübergehend dienstunfähig, und 26 Festnahmen

15.10.12-türkei

Nicht alle Demos von Türken und Kurden in Stuttgart laufen friedlich ab.

Vorhersehbare Eskalation

Alle sind entsetzt: Türken und Kurden, die Verbände, die Politiker. Dabei war die Eskalation am Sonntag in Stuttgart vorhersehbar. „Wer dazu aufruft, eine Demo zu sabotieren, muss sich nicht wundern, wenn das einige als Aufforderung zu Gewalt interpretieren“, sagt Gökay Sofuoglu, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland.

In mehreren deutschen Städten hatte die kaum bekannte Gruppe AYTK (Europäisches Neue-Türken-Komitee) sogenannte Friedensmärsche organisiert. Viele Kurden fühlten sich durch den Aufruf provoziert. Ein Bündnis anderer Migrantenorganisationen, darunter Kurden und Armenier, wirft der AYTK vor, nationalistisch zu sein und der türkischen islamisch-konservativen Regierungspartei AKP nahezustehen. Daher wurde dazu aufgerufen, sich dem „Friedensmarsch“ auch in Stuttgart entgegenzustellen. Als sich die Demos näherten, flogen Pflastersteine und Böller, Mülltonnen wurden umgeworfen. Die Bilanz: Mehr als 50 verletzte Polizisten, vier von ihnen sind vorübergehend dienstunfähig, und 26 Festnahmen. Auch in anderen deutschen Städten wurde demonstriert, etwa in Köln und Frankfurt. Dort gab es aber offenbar keine größeren Zwischenfälle.

Eine aufgeheizte Stimmung

Sofuoglu sagt: „Anfangs war alles friedlich, aber dann wurde die Stimmung immer aufgeheizter.“ Schließlich verlor die Polizei, die vorgewarnt war und sich vorbereitet hatte, die Kontrolle über die Lage. Auch Turan Tekin, Sprecher der Kurdischen Gemeinde Stuttgart, kritisiert den Aufruf zur Gegendemonstration: „Ich habe geahnt, dass das aus dem Ruder laufen kann.“ Ihn ärgert, dass die Randale den Kurden in die Schuhe geschoben werde. Seine Beobachtung: „Zwischen den friedlichen Demonstranten liefen auch Leute aus der autonomen Szene und linke Krawallmacher.“

Der seit Langem blutig ausgetragene Konflikt mit den Kurden in der Türkei wird immer wieder auch in Deutschland spürbar. Schon in der Vergangenheit kam es in   Stuttgart am Rande von Demonstrationen zu kleineren Ausschreitungen.

Der lange andauernde Kurden-Konflikt

Der Konflikt zwischen Türken und Kurden geht bis in die Zeit des Ersten Weltkrieges zurück. Damals brach das Osmanische Reich zusammen, doch anstatt einen eigenen Staat zu bekommen, wurde das Gebiet der Kurden zwischen der Türkei, Syrien, Irak, Iran und der Sowjetunion aufgeteilt. Aber viele Kurden gaben den Wunsch nach Souveränität nie auf – und brachten ihn als „Gastarbeiter“ auch mit in die Bundesrepublik. Inzwischen leben hier laut der Kurdischen Gemeinde Deutschland rund eine Million Menschen kurdischer Abstammung. Die meisten stammen aus der Türkei. So werden die Konflikte auch nach Deutschland importiert, wo fast zwei Millionen Türken leben. Hinzu kommen Türkischstämmige, die deutsche Staatsangehörige wurden.

Die türkischen und kurdischen Verbände in Deutschland kämpfen seit Jahren gegen die Radikalisierung vor allem ihrer jüngeren Mitglieder. Aus diesem Grund lässt Ali Ertan Toprak auch keine Zweifel aufkommen. „Was da in Stuttgart passiert ist, muss verurteilt und von der Polizei verfolgt werden“, sagt der Vorsitzende der Kurdischen Gemeinde Deutschlands. Besonders bitter für ihn sei, dass gerade die Kurden, die in ihrer Heimat unter den Repressionen des Staates leiden müssten, dort ihre Meinung nicht frei äußern könnten. Aus diesem Grund sollten sie das Demonstrationsrecht – auch für Andersdenkende – besonders hoch schätzen, klagt Toprak. Allerdings sei die Frustration aufseiten der jungen Kurden enorm. „Wegen der Flüchtlingskrise sieht die EU weg, wenn die türkische Regierung brutal gegen die Kurden in der Türkei vorgeht“, sagt er.

Die Polarisierung beginnt mit Erdogan

Auch Gökay Sofuoglu ist überzeugt, dass die Polarisierung in Deutschland begonnen habe, als Recep Tayyip Erdogan Staatspräsident wurde. Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde beobachtet schon seit einiger Zeit, dass sich zwei Gruppierungen gebildet hätten. Auf der einen Seite stünden die sogenannten Osmanen in Deutschland. Sie sehen sich selbst als Verteidiger des Türkentums. Auf kurdischer Seite hätten sich die Apo-Anhänger organisiert. „Apo“ ist die Abkürzung für Abdullah Öcalan, den inhaftierten Führer der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Beide Gruppen seien zwar noch immer in der Minderheit, aber sehr gewaltbereit.

Ein Integrationsproblem der Jugendlichen sieht Sofuoglu, im Hauptberuf Sozialarbeiter, nicht. „Diese jungen Leute sind integriert, sie sind in Deutschland geboren, haben einen Job und sind auf ihre Weise Teile der Gesellschaft.“ Was diese jungen Kurden und Türken suchen würden, sei eine Idee, mit der sie sich identifizieren könnten. Sofuoglu vergleicht diese Entwicklung mit der Radikalisierung in salafistischen Kreisen in den vergangenen Jahren. Auch dort habe man lange ignoriert, dass es immer mehr Jugendliche in Deutschland gebe, die bereit sind, die frühislamischen Ordnungsvorstellungen auch mit Gewalt durchzusetzen.

Gemeinsame Erklärung von Kurden und Türken

Angesichts dieser bedenklichen Entwicklung hatten die Türkische Gemeinde und die Kurdische Gemeinde in Deutschland schon Ende vergangenen Jahres Türken und Kurden in einer gemeinsamen Erklärung dazu aufgerufen, den Konflikt nicht nach Deutschland zu tragen. „Politische Probleme müssen politisch gelöst werden. Gewalt jeglicher Art kann keine akzeptable Lösung bei Konflikten sein, weder in der Türkei noch in Deutschland“, heißt es in den Aufruf. Gökay Sofuoglu fordert, dass sich Parteien und Verbände gerade in dieser spannungsgeladenen  Situation sehr deutlich von der Gewalt distanzieren. „Wir brauchen Stimmen der Vernunft, die die Emotionen kontrollieren.“ Diesen Satz sagt Sofuoglu auch mit Blick auf die bevorstehende Fußball-Europameisterschaft. Er befürchtet, dass es im Sommer deswegen „noch einige Probleme“ geben könnte.

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Und hier noch ein Kommentar:

Drohen jetzt Wasserwerfer?

Die Auseinandersetzungen zwischen Kurden und Türken werden nicht nur in Stuttgart immer gewalttätiger. Die Verbände der verfeindeten Gruppen müssen jetzt handeln. Sonst muss man über ein Verbot der Kundgebungen nachdenken, kommentiert Redakteur Knut Krohn.

Kommen in Stuttgart bei Demonstrationen bald wieder Wasserwerfer zum Einsatz? Es wäre ein fatales Zeichen. Die traumatischen Ereignisse bei der Räumung des Schlossparks während der S-21-Demos haften der ganzen Stadt nach Jahren noch tief im Gedächtnis. Es hat zwei Gründe, dass die Polizei angesichts der gewalttätigen Auseinandersetzungen vom Sonntag zwischen Türken und Kurden dennoch daran denkt, zu diesem Mittel zu greifen. Zum einen zeigt es die Hilflosigkeit der Sicherheitskräfte. Sie finden keine passende Antwort auf die Randale. Auf der anderen Seite ist es ein Zeichen für die Radikalisierung der rivalisierenden Gruppen. Kaum eine Demonstration für oder gegen die Ankaras Politik geht ohne Prügeleien ab. Angesichts der über 50 verletzten Beamten ist es verständlich, dass die Polizei daran denkt, aufzurüsten.

Doch das ist keine Lösung – die können nur die türkischen und kurdischen Verbände selbst liefern. Zu lange haben beide Seiten angesichts der zunehmenden Gewaltbereitschaft ihrer Mitglieder geschwiegen oder sie in manchen Fällen sogar stillschweigend toleriert. Das muss aufhören. Beide Seiten müssen einen konstruktiven Dialog beginnen. Der Hinweis auf die verfahrenen Zustände in der Türkei kann als Erklärung dienen, eine Entschuldigung für die Randale in Deutschland ist er nicht.

 

Türkische Gemeinde warnt nach Anschlag vor Gewalt auch in Deutschland

Der Anschlag von Ankara hat die Spannungen in der Türkei verschärft, wo in knapp drei Wochen Neuwahlen anstehen. Droht der Konflikt nun auch auf Deutschland überzugreifen?

15.10.12-türkei

Parallelen zur Türkei

Nach  dem  schweren Attentat in Ankara hat die Türkische Gemeinde vor Gewaltakten in Deutschland gewarnt. Die Stimmung zwischen Kurden und nationalistischen Türken sei aufgeheizt, sagt der Vorsitzende der Interessenvertretung, Gökay Sofuoglu. „Auch bei friedlichen Demonstrationen suchen vor allem junge Leute die Konfrontation mit der anderen Seite.“ Sofuoglu sieht eine eindeutige Parallele zu der politischen Entwicklung in der Türkei. Die Polarisierung habe auch in Deutschland begonnen, als Recep Tayyip Erdogan Staatspräsident wurde.

Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde beobachtet schon seit einiger Zeit, dass sich zwei Gruppierungen gebildet hätten. Auf der einen Seite stünden die sogenannten Osmanen in Deutschland. Sie sehen sich selbst als Verteidiger des Türkentums. Auf kurdischer Seite hätten sich die Apo-Anhänger organisiert. „Apo“ ist die Abkürzung für Abdullah Öcalan, den inhaftierten Führer der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Beide Gruppen seien zwar noch immer in der Minderheit, aber sehr gewaltbereit.

Kein Problem der Integration

Ein Integrationsproblem der Jugendlichen sieht Sofuoglu, im Hauptberuf Sozialarbeiter, nicht. „Diese jungen Leute sind integriert, sie sind in Deutschland geboren, haben einen Job und sind auf ihre Weise Teile der Gesellschaft.“ Was diese jungen Kurden und Türken suchen würden, sei eine Idee, mit der sie sich identifizieren könnten. Sofuoglu vergleicht diese Entwicklung mit der Radikalisierung in salafistischen Kreisen in den vergangenen Jahren. Auch dort habe man lange ignoriert, dass es immer mehr Jugendliche in Deutschland gebe, die bereit sind, die frühislamischen Ordnungsvorstellungen auch mit Gewalt durchzusetzen.

Angesichts dieser bedenklichen Entwicklung hatten die Türkische Gemeinde und die Kurdische Gemeinde in Deutschland schon Anfang September Türken und Kurden in einer gemeinsamen Erklärung dazu aufgerufen, den Konflikt nicht nach Deutschland zu tragen. „Politische Probleme müssen politisch gelöst werden. Gewalt jeglicher Art kann keine akzeptable Lösung bei Konflikten sein, weder in der Türkei noch in Deutschland“, heißt es in den Aufruf. Gökay Sofuoglu fordert, dass sich Parteien und Verbände gerade in dieser spannungsgeladenen  Situation sehr deutlich von der Gewalt distanzieren. „Wir sind nach dem Attentat natürlich alle bestürzt, aber gerade jetzt brauchen wir Stimmen der Vernunft, die die Emotionen kontrollieren.“

Einen unguten Einfluss hätten in diesem Fall die sozialen Medien im Internet, beobachtet Gökay Sofuoglu. Dort seien wüste Beschimpfungen der politischen Gegenseite an der Tagesordnung. Zudem werde sehr schnell von allen Seiten zu Demonstrationen aufgerufen die gar nicht genehmigt sind.

Özdemir warnt vor einem Bürgerkrieg in der Türkei

Cem Özdemir gelingt ein Besuch in der umkämpften kurdische Stadt Cizre. In der lange abgeriegelten Stadt fanden in den vergangenen Tagen schwere Kämpfe statt.

Özdemir – hier bei einem Besuch im Nordirak – kritisiert die türkische Regierung.

Das Ende der Stabilität

In der Türkei bestehe angesichts der eskalierenden Gewalt die Gefahr eines Bürgerkrieges. Das sagte  Grünen-Chef Cem Özdemir nach dem Besuch in der umkämpften Stadt Cizre.  „Man muss aufpassen, dass es sich nicht in diese Richtung entwickelt. Von politischer Stabilität kann in der Türkei längst keine Rede mehr sein.“ In Cizre war es in den vergangenen Tagen zu schweren Zusammenstößen zwischen  Sicherheitskräften und Kämpfern der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK gekommen. Ausgehsperren wurden verhängt und Sicherheitskräfte riegelten die Stadt von der Außenwelt ab. Özdemir zeigte sich sichtlich beeindruck durch die Zerstörungen in Cizre,  „eine völlig neue Dimension erreicht haben“. Man könne nur erahnen, mit welcher Brutalität die Angriffe geführt worden seien, sagte er. Özdemir forderte die  Regierung und die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK zu einer sofortigen Waffenruhe auf. „Der Ort zur Lösung der kurdischen Frage ist das Parlament“, so der Politiker, der auf seiner Reise von der  Fraktionsvorsitzenden der Grünen im Europaparlament, Rebecca Harms begleitet wurde.

Kritik an Erdogan

Özdemir äußert sich allerdings  skeptisch, dass die Verantwortlichen in Ankara den  Verhandlungsweg einschlagen werden.   Er wirft  Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan vor, auf eine „innenpolitische Verschärfung“ der Lage gesetzt zu haben. Grund sei, dass Erdogans islamisch-konservative AKP bei der Parlamentswahl im Juni die von ihm gewünschte verfassungsändernde Mehrheit verfehlt habe. „Er hat das Land ohne Not in eine Krise gestürzt.“ Nach dem Scheitern von Koalitionsverhandlungen hat Erdogan für den 1. November Neuwahlen ausgerufen.

An Ansehen verloren

Durch das Verhalten des Präsidenten habe die Türkei in der internationalen Staatengemeinschaft an Ansehen verloren. Der Westen müsse versuchen, seinen Einfluss auf Ankara geltend zu machen. „Als Nato-Mitglied und EU-Beitrittskandidat muss die Türkei erkennen, dass sich das Land an demokratische Grundsätze halten muss“, erklärt Özdemir. Rücke Ankara nicht von seinem Konfrontationskurs mit den Kurden ab,  sollte der Westen prüfen, ob das G-20-Treffen im November in Antalya stattfinden soll. Das wäre, so Özdemir, ein deutliches Signal an Erdogan.

Die Türkei am Abgrund

Der türkische Präsident Erdogan treibt sein Land an den Rand eines Bürgerkrieges. Der Westen hält sich mit Kritik auffallend zurück.

15.04.08-Erdogan

Der Machtmensch

Recep Tayyip Erdogan ist ein Machtpolitiker allererster Güte. Das ist nicht verwerflich, davon gibt es in der Riege der europäischen Demokraten – zu denen sich der türkische Präsident noch immer zählt –  sehr viele. Allerdings: keiner betreibt sein Geschäft in derart pervertierter Form wie Erdogan. Er ist zerfressen von  Machtgier und bereit, für seine Ziele den   Frieden im eigenen Land zu opfern.

Ein politischer Amoklauf

Dass die Türkei in diesen Tagen ins Chaos treibt, ist die Schuld des Präsidenten. Auslöser für seinen politischen Amoklauf sind die Parlamentswahlen im vergangenen Juni. Damals verlor seine Partei, die islamisch-konservative AKP,  die absolute Mehrheit. Grund dafür war der Erfolg der pro-kurdischen HDP, die mit mehr als zehn Prozent der Stimmen den Sprung ins Parlament schaffte. Recep Tayyip Erdogan setzt nun alles daran, dieses demokratische Ergebnis zu seinen Gunsten zu korrigieren. Die Marschroute auf dem Weg zur Rückeroberung der uneingeschränkten Macht ist offensichtlich. Zuerst ließ die AKP die Koalitionsverhandlungen scheitern, dann setzte Erdogan als Staatschef kurzerhand für den 1. November Neuwahlen an.

Das Ziel: die HDP diskreditieren

Das nächste Ziel ist es, die Kurdenpartei HDP zu diskreditieren und sie unter die Zehn-Prozent-Hürde zu drücken. Dazu treibt er sein eigenes Land an den Rand eines Bürgerkrieges. Erdogan schürt den Konflikt mit den Kurden gezielt, schlägt mit seinen Hassreden einen Keil in die Gesellschaft, um am Ende als starker Mann und Retter der Türkei auftreten zu können. Dafür instrumentalisiert er auch die  Staatsanwaltschaft. Sie ermittelt nun gegen HDP-Chef Selahattin Demirtas  wegen Propaganda für eine Terrororganisation.

Es herrscht Pogromstimmung

Zumindest ein Teil seines Planes geht auf: in der Türkei herrscht seit Wochen eine Pogromstimmung. Ein nationalistischer Mob zündet kurdische Geschäfte an und macht regelrecht Jagd auf Kurden. Auf der anderen Seite überzieht die kurdische Terrororganisation PKK das Land mit Anschlägen auf Polizeistationen und Kasernen. Es zählt zu den historischen Verdiensten Erdogans, dass er einst als Premierminister die Aussöhnung mit den Kurden mutig voran getrieben hat. Doch das alles ist jetzt nur noch Stoff für die  Geschichtsbücher, die Regierung in Ankara lebt wieder im Kriegszustand. Das alles erinnert an die dunklen Jahre türkischer Politik, als die Militärs das Sagen hatten – und doch geht der Konflikt nun viel tiefer.  War es früher eine Auseinandersetzung zwischen dem Staat und der PKK, droht nun eine gesellschaftliche Auseinandersetzung zwischen den Türken und den Kurden.

Die Region ist ein Pulverfass

Wer je die Hoffnung hegte, die Türkei könne zu einem demokratischen Anker in der islamischen Welt werden, zu einem Vorbild für die Nachbarn, einer Brücke zwischen Europa und den arabischen Ländern, der kann sich von dieser Vorstellung  verabschieden. Und wer glaubt, das alles sei nur ein innenpolitisches Problem der Türkei, der irrt. Die gesamte Region gleicht einem Pulverfass. In den Nachbarstaaten toben blutige Kriege, islamische Fanatiker befinden sich auf dem Vormarsch, Millionen Flüchtlinge strömen über die Grenzen. Das sind Entwicklungen, die den Frieden und die Freiheit in der ganzen Welt bedrohen. Gerade in dieser Zeit bräuchte es eine weitsichtige politische Führung in der Türkei.

Einsilbiger Westen

Diese Bedrohungen sind allerdings auch der Grund, weshalb die westlichen Regierungen angesichts des Vorgehens Erdogans auffallend einsilbig sind. Der Nato-Partner Türkei wird für den Kampf gegen die islamischen Terroristen in Syrien und im Irak noch gebraucht. Und in Brüssel wissen die Verantwortlichen sehr genau, dass die türkische Regierung ohne Probleme einen unglaublichen Flüchtlingsstrom von Millionen Menschen in Richtung Europa auslösen könnte. In diesem Sinne haben sich die Realpolitiker im Westen mit dem Machtpolitiker in Ankara arrangiert.

Eine Chance für die Türkei

Der Einfluss des inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öcalans ist ungebrochen. Wer daran gezweifelt hatte, wurde durch die Feiern zum kurdischen Neujahrsfest Newroz eines besseren belehrt.

15.03.22-newrozNewroz-Feier in Diyabakir

Die zentrale Newroz-Feier in Diyarbakir mit wahrscheinlich über einer Million Teilnehmern Die Menschenmenge erstreckt sich bis zum Horizont. Über den Köpfen ein Meer an Flaggen, die meisten davon sind in der Türkei illegal: Sie zeigen etwa das Konterfei Öcalans oder das PKK-Symbol, einen grünen Stern in gelbem Kreis auf rotem Grund. Linke Kampflieder werden gespielt, die Internationale dröhnt aus den Boxen.

Hoffnung auf Frieden

Die Feierlaune der Kurden wird auch genährt durch die Hoffnung, dass der Konflikt mit der türkischen Regierung in Ankara endlich beigelegt werden könnte. Die Hoffnung schürte Öcalan selbst. In einer Botschaft zum Neujahrsfest rief er seine Bewegung auf, einen Kongress zu organisieren, „um den 40 Jahre langen Kampf gegen die Türkische Republik zu beenden“. Zudem verzichtet er auf einen eigenen Kurdenstaat.

Das Ende des Kampfes

Das Ende des bewaffneten Kampfes der kurdischen Arbeiterpartei PKK scheint also zum Greifen nahe. Auf beiden Seiten aber ist das Misstrauen nach dem jahrzehntelangen Kampf riesengroß. Die Nationalisten unter den Türken halten Öcalan noch immer für den größten Staatsfeind in der Republik. Viele Kurden verdächtigen Präsident Erdogan, sie nur als Stimmvieh für die nächste Wahl im Juni missbrauchen zu wollen. Auch seine langanhaltende Weigerung, Unterstützung für die vom IS bedrängten Kämpfer in Kobane zuzulassen, hat sein Image bei den Kurden in der Türkei ruiniert.

Zweifel gegenüber Erdogan

Der Verdacht gegenüber Erdogan ist nicht unbegründet. Denn tatsächlich braucht er die Stimmen der Kurden für seine geplante Verfassungsänderung, mit der er sich noch mehr Macht verschaffen will. Der türkische Präsident wäre aber gut beraten, das größere Bild zu sehen. Der Konflikt mit den Kurden ist für die Türkei eine schwere Bürde. Er bindet militärische Kräfte, die das Land zur Abwehr äußerer Gefahren dringend braucht. In den Nachbarländern Irak und Syrien toben blutige Bürgerkriege. Die IS-Terrormiliz könnte früher oder später versuchen, auch die Türkei ins Fadenkreuz zu nehmen. Nur eine Türkei, die ihre inneren Konflikte löst, wird stark genug sein, einer solchen Bedrohung standzuhalten. Deshalb liegt es auch im Interesse der EU und der Nato, dass die Türkei und ihre Kurden endlich Frieden schließen.

HINTERGRUND zu den Kurden:

Der gewaltsame Konflikt der türkischen Regierung mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK dauert schon 30 Jahre. Dabei kamen bislang rund 40 000 Menschen ums Leben.

Die Türkei, die Europäische Union und die USA stufen die PKK als Terrororganisation ein. PKK-Führer Abdullah Öcalan sitzt seit 1999 auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali in Haft. Das Hauptquartier der Organisation liegt in den irakischen Kandil-Bergen.

Die türkische Regierung und die PKK bemühen sich um einen Friedensprozess. Im März 2013 erklärte die PKK eine Waffenruhe. Bald darauf begann die PKK, ihre Kämpfer aus der Türkei abzuziehen. Im September setzte sie den Abzug allerdings aus, weil sie mangelndes Entgegenkommen der türkischen Regierung beklagte.

Ende Februar kam wieder Bewegung in die Friedensverhandlungen: Kurdenführer Öcalan rief seine Anhänger dazu auf, eine Niederlegung der Waffen zu beschließen.

Etwa 24 Millionen Kurden leben über die Länder Türkei, Irak, Iran und Syrien verteilt. Sie bezeichnen sich als größtes Volk ohne eigenen Staat. In der Türkei machen die Kurden etwa 18 Prozent der Gesamtbevölkerung aus.