Eine kurze Wut-Rede

Einen Text im Furor zu schreiben, ist immer problematisch. Ständig nur distanzierter Beobachter zu bleiben, schlägt aber irgendwann auf das Gemüt. Es gibt einige Gründe, meine Beobachtungen aus einer sehr subjektiven Warte aufzuschreiben. Ausschlaggebend war in diesem Fall vielleicht ein kurzes Gespräch mit einem Polizisten, der an diesem Tag lieber mit seiner sechsjährigen Tochter ihren Geburtstag gefeiert hätte – aber er musste sich wieder einmal prügeln.

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Nach nur wenigen hundert Meter brennt bei der Demo in Paris das erste Auto

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Gerechtfertigte Proteste gegen das neue Gesetz

Der junge Polizist stand in einer Seitenstraße in Paris und kontrollierte die Passanten. Das heißt: Tasche auf, Jacke auf, kurzes Abtasten, immer freundlich bleiben. In einiger Entfernung näherte sich die Demonstration, die für Samstag angekündigt war. Mehrere Tausend Menschen gingen gegen soziale Ungerechtigkeit und gegen Polizeigewalt auf die Straße. Den Zorn der Franzosen erregt vor allem ein neues Sicherheitsgesetz, das etwa das Filmen von Polizisten erschweren soll – und vor allem das Posten der Bilder im Internet unter Strafe stellen kann.

Aber um die Bewertung dieses Gesetzes soll es an dieser Stelle nicht gehen. Nur so viel: es gibt sehr gute Gründe, dagegen auf die Straße zu gehen. Im Folgenden wird es aber um die Menschen drehen, die sich da auf der Straße an einem ziemlich kühlen Spätherbsttag begegnet sind.

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Unbändiger Hass bricht sich die Bahn

Ein Grund, die Beobachtungen von diesem Samstag aufzuschreiben ist auch: es ist nicht das erste Mal, dass sich die Vorfälle so abgespielt haben, wie sie sich abgespielt haben. In den vergangenen zwei Jahren verging in Paris gefühlt kein Wochenende, an dem es nicht zu Krawallen kam. Mal waren sie sehr gewalttätig, mal weniger. Aber am Ende einer Kundgebung stand meistens eine Keilerei. Man könnte nun sagen, dass man sich daran gewöhnen kann – aber das geht nicht. An den Hass, der sich über die Bahn bricht, kann man sich nicht einfach gewöhnen.

Auch an diesem Samstag waren die Fronten schon im Vorfeld klar abgesteckt. Es ging um: wir gegen die. Oder: die Guten gegen die Bösen! Wobei jede Seite natürlich ganz genau weiß, wer die Guten und wer die Bösen sind. Die Feinbilder sind zementiert – und das ist wohl eines der Probleme, wo eine Lösung ansetzten könnte.

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Die Fronten sind bereits geklärt

Diese Frontstellung wird schon vor der Demo deutlich. Die Polizei fährt mir Hundertschaften auf, die in voller Kampfmontur die Seitenstraßen füllen. Auf der Seite der Demonstranten stehen die üblichen Einpeitscher, die in der Regel zu einer Gewerkschaft oder einer Arbeiterorganisation gehören. Also Kampflieder werden angestimmt und er werden auch gerne Flugblätter verteilt, auf denen die Konterfeis von Marx, Engels und Lenin zu sehen sind. Das fühlt sich bisweilen an wie eine Zeitreise in die frühen 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts.

Diese Klassenkämpfer, die das „Schweinesystem“ abschaffen wollen sind aber nicht das Problem. Die zweifelhafte Orchestrierung der Demo übernimmt irgendwann immer eine kleine Gruppe, die sich am Anfang auffallend zurückhält: es sind die sogenannten Black Blocks.

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Es geht nicht um Klassenkampf

Diese Gruppe probt nicht den Klassenkampf – sie suchen nur Randale. Das heißt: während der Demos gibt es keine unkoordinierten Gewaltausbrüche. Die Gewalt ist sehr genau orchestriert, die Aufgaben in den Gruppen sind sehr genau geteilt. Immer wieder werden einzelne in die Menge geschickt, die dann aus der Deckung heraus Flaschen und Steine werden. Zu sehen ist auch, dass junge Männer schwere Schlaggeräte aus einer unscheinbaren Tasche ziehen, die eine junge Frau in der Menge trägt. Damit werden dann Panzerglasscheiben an Geschäften zertrümmert. Drei oder vier kurze Schläge, die Scheine ist kaputt, das Schlagutensil wird schnell wieder weggepackt und weiter geht es. Das ist reine Zerstörungswut.

Diese Randalier bewegen sich auch sehr gekonnt im Protestzug. Das gelingt ihnen aber nur, weil ihnen der größte Teil der Demonstranten eine große Sympathie entgegenbringt – durch die sich diese Gruppe offensichtlich auch noch bestärkt sieht in ihrem Tun.

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„Alle Welt hasst die Polizei“

Am Samstag etwa brannte nach nur einigen Hundert Metern das erste Auto. Polizei und Feuerwehr musste einschreiten, um den Schaden einzudämmen – und wurde von den Protestierenden attackiert. Erschütternd ist auch hier wieder der Hass, der den Beamten entgegen schlägt. Immer wieder erklangen Sprechchöre wie „Alle Welt hasst die Polizei“. Die Beamten werden geradezu entmenschlicht. Sie werden nur noch als abstrakte Verteidiger eines noch abstrakteren Systems gesehen, was es dann erlaubt, sie zu bespucken und zu verhöhnen.

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An dieser Stelle muss gesagt werden, dass die französische Polizei nicht gerade zimperlich bei ihren Einsätzen ist. Statt auf Deeskalation setzt man zu oft auf Gegengewalt. Warum sich dies seit Jahrzehnten nicht ändert, ist eine Frage, die man dringend stellen muss.

Die Radikalen gewinnen die Oberhand

So viel zu den fast schon folklore-ähnlichen Gewaltausbrüchen bei den Demos in Paris. Das Problem ist, dass dadurch eigentlich gute Ideen kaputtgemacht werden. So ist der Protest gegen das neue Sicherheitsgesetzt sehr gerechtfertigt, aber er geht in der Gewalt unter. Dasselbe bei den Gilets Jaunes. Es hat viel zulange gedauert, bis die Menschen in Frankreich gegen die gesellschaftliche Ungleichheit und sozialen Probleme auf die die Straße gegangen sind. Doch auch im Fall der Gelbwesten wurde der Protest immer weiter radikalisiert und am Ende von gewaltbereiten Gruppen gekapert. Schließlich stand bei den Demozügen der Gilets Jaunes nur noch die Randale im Mittelpunkt – die eigentliche Sache war fast vergessen worden.

Auffallend ist, dass es sich beide Seiten in ihren Ecken ziemlich gut eingerichtet haben. Jeder macht den anderen für die Gewalt verantwortlich, das eigene Tun ist nur noch Notwehr. Und auf ihre Weise haben damit auch alle recht.

Worum geht es?

Die Regierung von Präsident Emmanuel Macron will mit dem geplanten Gesetz für „umfassende Sicherheit“ die Verbreitung von Foto- oder Filmaufnahmen von Polizeieinsätzen unter Strafe stellen, wenn dadurch die „körperliche oder psychische Unversehrtheit“ einzelner Beamter gefährdet wird. Mit dem Gesetz will die Regierung die Einsatzkräfte nach eigenen Angaben besser schützen.

Journalistenverbände befürchten jedoch eine massive Einschränkung der Pressefreiheit. Kritiker argumentieren zudem, dass in der Vergangenheit viele Fälle von Polizeigewalt ungestraft geblieben wären, wenn sie nicht gefilmt und die Aufnahmen im Internet verbreitet worden wären.

Angesichts der Proteste gegen das Gesetz hat die Regierungsmehrheit im Parlament inzwischen angekündigt, das umstrittene Filmverbot im Sicherheitsgesetz neu fassen zu wollen. Allerdings ist noch nicht bekannt, wie der Artikel genau verändert werden soll.

Macron wies in einem Interview mit dem vor allem von jungen Menschen genutzten Online-Medium „Brut“ den Vorwurf zurück, dass die Freiheitsrechte in Frankreich beschnitten würden. „Das ist eine große Lüge. Wir sind nicht Ungarn oder die Türkei“, sagte er. Macron verurteilte sowohl das gewaltsame Vorgehen einzelner Polizisten als auch Gewalt gegen Sicherheitskräfte.

Gewalt bei Protest in Paris gegen Polizeigewalt

Wieder gibt es Randale bei Demonstrationen in Frankreich. Besonders wild geht es in Paris zu. Die Menschen sind auch in Bordeaux, Lyon, Straßburg, Marseille gegen Polizeigewalt und für die Pressefreiheit auf die Straße gegangen. Auch die Randalierer sagen, gegen Gewalt zu sein – ihre eigene Gewalt sei lediglich Notwehr. Das gefällt aber auch nicht allen Demo-Teilnehmern.

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Ausschreitungen bei der Demo gegen die Polizeigewalt

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Protest gegen geplantes Gesetz

Am Place de la République im Zentrum von Paris versammelten sich gegen Mittag viele Tausend Menschen. Wegen der Masse an Demonstranten konnten nicht auf Hygieneabstände geachtet werden, wie es eigentlich gefordert worden war. Auch war schnell klar, dass der Nachmittag nicht ohne Krawalle abgehen würde. Wie fast immer, formierten sich in den Seitenstraßen kleine Trupps von schwarz gekleideten jungen Männern, die offensichtlich die Konfrontation mit der Polizei suchten. Die war im Gegenzug mit ebenfalls mit vielen Hundert Männern und Frauen im Einsatz. Dieser Ablauf ist inzwischen fast schon zu einer Art Ritual geworden.

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Radikalisierung der Demo-Teilnehmer

Zu beobachten war diese Entwicklung bei den Protesten der Gelbwesten. Die Demonstrationen litten am Ende unter der Radikalisierung vieler Teilnehmer. Am Ende schaukelten sich Randaliere und Einsatzkräfte gegenseitig hoch und es kam bei vielen Protesten zu regelrechten Straßenschlachten. Dieses Mal richteten sich die Proteste in der Hauptstadt Paris und in vielen anderen Städten nicht gegen die sozialen Missstände in Frankreich.

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Wut über ein geplantes Filmverbot

Den Unmut vieler Franzosen richtet sich gegen ein geplantes Filmverbot bei bestimmten Polizeieinsätzen. Angefacht wurden die Proteste von neuen Fällen von Polizeigewalt, die in dieser Woche durch Videoaufnahmen bekannt geworden waren und landesweit für Entsetzen gesorgt hatten.

Die Regierung von Präsident Emmanuel Macron will mit dem Gesetz für „umfassende Sicherheit“ die Verbreitung von Foto- oder Filmaufnahmen unter Strafe stellen, durch die einzelne Polizisten in die Kritik geraten könnten. Nicht nur Journalisten befürchten massive Einschränkungen der Pressefreiheit. Demonstranten hielten Plakate mit Aufschriften wie „Wer beschützt uns vor der Polizei?“ oder „Stoppt Polizeigewalt“.

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Ein brennendes Auto am Rand der Demo in Paris

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Mit dem geplanten Gesetz will die Regierung der Polizei auch die Überwachung von Demonstranten mit Drohnen ermöglichen. Das Unterhaus des Parlaments hat die Vorlage bereits in erster Lesung gebilligt. Nun soll es allerdings nach Angaben von Premierminister Jean Castex noch einmal überarbeitet werden.

NACHTRAG:

Die Zeitung „Le Figaro“ meldet, dass einige Demonstranten ein Gebäude der Banque de France angezündet haben.

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Und hier die offizielle Teilnehmerzahl der Demonstration in Paris, bestätigt vom französischen Innenministerium:

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Eine explosive Mischung

In Frankreich wird seit zwei Wochen gestreikt. Der geplante Rentenreform ist nur ein Grund für die Wut der Franzosen. 

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Die Proteste gegen die Rentenreform nehmen kein Ende. Nun drohen die Gewerkschaften damit, auch an Weihnachten den Zugverkehr lahmzulegen.

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Franzosen gelten als geradezu streikfreudig

Frankreich wird seinem Ruf wieder einmal gerecht. Die Franzosen gelten als geradezu streikwütiges Volk, das seinen Zorn gegen die „die da oben“ schnell auf die Straße trägt. Auch jetzt wieder sind viele Bereiche des öffentlichen Lebens seit zwei Wochen lahmgelegt. Doch mit dem Widerstand gegen die Rentenreform ist die bisweilen gewalttätige Vehemenz der Proteste nur ungenügend erklärt. Es ist ein explosives Gemisch aus mehreren Faktoren, das die Menschen auf die Barrikaden treibt. So entlädt sich die Frustration der Lehrer, Feuerwehrleute oder des Krankenhauspersonals wegen der immer schlechter werdenden Arbeitsbedingungen, über die sie seit Jahren vergeblich klagen. An den Protesten beteiligt sind auch viele Anhänger der Gilets Jaunes, die mehr soziale Gerechtigkeit in Frankreich einfordern – und natürlich den Sturz des Präsidenten Emmanuel Macron.

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Die Renaissance der Gewerkschaften

Und dann sind da natürlich die Gewerkschaften, die froh scheinen, endlich wieder als Kämpfer für die Rechte der Arbeitnehmer öffentlich wahrgenommen zu werden. Während der Proteste der Gelbwesten waren sie völlig abgemeldet. Das hat allerdings zur Folge, dass sich die vielen, untereinander konkurrierenden Gewerkschaften nun in eine Art Überbieterwettkampf begeben haben – jede Organisation geht mit immer radikaleren Forderungen für ihre Klientel in die Verhandlungen. Und natürlich ist der Streit um die Rentenreform auch in den Augen mancher Parteien eine Art Glückfall. Präsident Macron hat mit seiner Politik vor allem das linke Spektrum marginalisiert. Sie sehen nun die Chance, jenem Mann zu schaden, den sie für ihren Niedergang verantwortlich machen.

Macron ist die Zielscheibe der Proteste

Deutlich wird: Emmanuel Macron ist der gemeinsame Gegner, auf den sich die Wut aller Streikenden konzentriert. Das überdeckt sämtliche inhaltlichen Unterschiede in der Protestfront. Diese verwirrende Kakophonie in den Demonstrationszügen macht deutlich, dass die Reform des Rentensystems nur eines von sehr vielen fundamentalen Problemen ist, die es in Frankreich in den nächsten Jahren zu lösen gilt.

Reden reicht nicht!

Die „Gelbwesten“ wollen von Emmanuel Macron soziale Wohltaten – doch der will im Moment nur reden. Ein Kommentar:

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Die Forderungen sind sehr klar formuliert – doch Macron zögert

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Gelbwesten protestieren seit November

Wieder haben in Frankreich die „Gelbwesten“ protestiert und wieder macht eine Seiten die jeweils andere für die seit Monaten andauernden Krise verantwortlich. Die Fronten zwischen den Demonstranten und der Regierung sind verhärtet und keiner scheint bereit, auch nur einen kleinen Schritt auf den anderen zuzutun.

Die Hilflosigkeit Emmanuel Macrons angesichts der Proteste ist fast schon mit Händen zu greifen. Zwar hat der Präsident eine nationale Debatte über die Zukunft Frankreichs angestoßen und seine Minister fahren demonstrativ kreuz und quer durch das Land, um an Bürgerdialogen teilzunehmen.

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Doch die „Gelbwesten“ wollen nicht reden, sie wollen Taten sehen. Sie wollen Steuerentlastungen, höhere Renten und sie wollen, dass die Reichen wieder stärker zur Kasse gebeten werden. Die Demonstranten fordern, dass mehr von oben nach unten umverteilt wird, um die seit Jahrzehnten immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich zu verringern. Wie ihre Forderungen finanziert werden sollen, kümmert sie allerdings wenig. Die „Gelbwesten“ wollen die Quadratur des Kreises: die Steuern verringern und die Sozialausgaben erhöhen.

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Das macht es für Macron so schwierig zu handeln, weswegen er im Moment noch vor weitreichenden, konkreten Schritten zurückscheut. Er will zuerst einmal den Menschen zuhören, zeigen, dass er nicht der abgehobene „Präsident der Superreichen“ ist, wie ihm immer wieder vorgeworfen wird. Das aber wird nicht genügen, die inzwischen stark radikalisierten „Gelbwesten“ zu besänftigen.

Macron muss im April liefern

Der Präsident hat mit der von ihm angeschobenen nationalen Debatte etwas Zeit gewonnen. Im April will er die Ergebnisse seiner Gespräche dem Volk präsentieren. Spätestens dann muss Emmanuel Macron liefern. Dann muss er konkret benennen, wie er die sozialen Ungerechtigkeiten in Frankreich abbauen will. Die Erwartungen sind sehr hoch. Werden die Menschen abermals enttäuscht, stehen Frankreich und seinem Präsidenten sehr schwere Zeiten ins Haus.

Protest in Russland gegen die Rentenreform

Zehntausende Russen haben gegen eine umstrittene Erhöhung des Rentenalters demonstriert und den Rücktritt von Regierungschef Dmitri Medwedew gefordert. Gewerkschaften, die Kommunistische Partei und linke Gruppen mobilisierten ihre Anhänger in Dutzenden russischen Städten, darunter St. Petersburg, Jekaterinburg, Nowosibirsk und Wladiwostok. 

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Frauen sollen acht Jahre länger arbeiten

Die Regierung will das Rentenalter bis 2034 schrittweise anheben. Männer sollen statt wie bisher mit 60 künftig mit 65 Jahren in Rente gehen, Frauen sollen 8 Jahre länger arbeiten – bis 63.

Stand Januar 2018 leben in Russland rund 46 Millionen Rentner, das entspricht etwa 32 Prozent der Bevölkerung. Die Durchschnittsrente beträgt umgerechnet rund 200 Euro. „Man kann von der Rente leben, wenn man das Geld nur für Essen und die Wohnung ausgibt und einmal im halben Jahr etwas zum Anziehen kauft. Für mehr reicht es nicht“, sagte die Rentnerin Nadeschda (59) bei der Kundgebung in Moskau.

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Ein Schock für die Russen

Die Pläne hatten landesweit einen Schock ausgelöst. Viele hatten auf eine Rentenerhöhung gehofft, nun sollen sie länger arbeiten. Den unabhängigen Meinungsforschern vom Lewada-Zentrum zufolge lehnen rund 90 Prozent der Russen die Reform ab. Unmut hatte auch der Zeitpunkt gebracht: Die Regierung hatte die Pläne am 14. Juni im Schatten der Eröffnung der Fußball-Weltmeisterschaft mitgeteilt, als das ganze Land in Vorfreude auf das Turnier schwelgte. Kritiker sahen darin eine „Respektlosigkeit des Staates gegenüber dem Volk“.

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Gewerkschaftler brachten eine Online-Petition auf den Weg, die rund 2,9 Millionen Menschen (Stand Sonntag) unterzeichnet haben. Darin argumentieren sie, dass in Dutzenden Gebieten Russlands die Lebenserwartung für Männer unter 65 Jahren liege.

Niedrige Lebenserwartung in Russland

Im russischen Durchschnitt beträgt die Lebenserwartung für Männer etwa 67 und für Frauen rund 77 Jahre. In Deutschland, wo die Rente ab 2031 mit 67 Jahren beginnen soll, liegt die Lebenserwartung für Männer bei rund 78 und für Frauen bei rund 83 Jahren. Auch in Deutschland wird teils heftig über die Rente diskutiert, denn auf immer weniger Einzahler in die Rentenversicherung kommen immer mehr Rentner.

Welch soziale Sprengkraft das Projekt in Russland birgt, zeigen auch Auseinandersetzungen im Parlament. Während die Regierungspartei Geeintes Russland das Gesetz in erster Lesung fast geschlossen durchwinkte, formierte sich in der eigentlich als systemnah geltenden Opposition Widerstand. „Es ist schwierig, sich andere Entscheidungen der Staatsmacht vorzustellen, die eine derart einhellige Ablehnung auslösen“, kommentierte der Soziologe Denis Wolkow von Lewada.

Putin hält sich zurück

Nur einer hielt sich lange bedeckt zu dem unpopulären Projekt: Gut einen Monat dauerte es, bis sich Präsident Wladimir Putin äußerte. Ihm gefalle die Erhöhung des Eintrittsalters nicht, doch sie sei notwendig, sagte er. 1970 seien auf einen Rentner noch 3,7 Arbeiter gekommen, heute kämen „auf 5 Pensionäre 6 Arbeitnehmer, und deren Zahl wird sinken“, sagte Putin. „Dann wird das System platzen.“

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So stellte sich Putin demonstrativ hinter seine Regierung. Änderungen wurden zwar angekündigt, um die Sorgen der Bürger zu berücksichtigen. Reformgegner befürchten etwa, dass sie im Alter kaum einen Job finden oder aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten können.

Die Reform geht an Realität vorbei

Experten verweisen indes darauf, dass das Pensionsalter inzwischen ohnehin für viele nur Theorie ist. Nach Angaben der Statistikbehörde Rosstat arbeiten rund 40 Prozent der Männer zwischen 60 und 65 sowie der Frauen zwischen 55 und 63 Jahren trotz ihrer Pension weiter. So sei die Rente für Geringverdiener ein zweites Einkommen für einen würdigen Lebensstil, kommentiert die Zeitung „Wedomosti“.

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Für den Herbst, wenn weitere Abstimmungen über die Reform in der Duma anstehen, erwarten Experten neue Proteste. Doch nur wenige trauen dem Thema bei aller Brisanz zu, langfristig Massen zu mobilisieren. Der Soziologe Wolkow sagte, die schärfsten Kritiker kämen aus der alten Garde der Opposition. Und der vertrauten viele Russen nicht.

Im Kreml nichts Neues

Zwei Minuten hatte Alexej Nawalny Zeit, zu seinen Anhängern zu sprechen – dann war er schon wieder weg. Allerdings nicht freiwillig. Der Kremlkritiker wurde von der Polizei davongetragen. Die Proteste sind kein gutes Omen für die neue Amtszeit Wladimir Putins, der seinen Bürgern doch ein neues und besseres Russland versprochen hat.

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„Kein Zar für uns!“

1600 Menschen sollen bei den Demonstrationen gegen Putin verhaftet worden sein – allein 700 in Moskaus, wie das Bürgerrechtsportal OVD-Info zählte. Der Protest unter dem Motto „Kein Zar für uns!“ richtete sich gegen seine lange Herrschaft, gegen Korruption und Internetzensur in Russland.

Am Puschkinplatz in Moskau spielten sich dramatische Szenen ab. Nawalny gelangte zwar ungehindert auf den Platz und skandierte mit seinen Anhängern „Nieder mit dem Zaren!“. Doch wie bei früheren Aktionen zerrten Polizisten ihn aus der Menge und nahmen ihn fest. Gepanzerte Einheiten räumten den Platz, setzten Schlagstöcke ein und führten wahllos Demonstranten ab. Selbst Kinder wurden zu Boden geworfen und festgenommen.
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Die leeren Versprechungen Putins

Das alles passt nicht zu den Versprechungen Putins, der am Montag seinen Amtseid ablegte. Er führt das größte Land der Welt seit 18 Jahren, viele der Festgenommenen kennen nur ihn als Führer ihres Reiches. Bis 2024 soll die IT-Wirtschaft Russlands zur Weltspitze zählen, das marode Straßennetz in bestem Zustand sein und die Lebenserwartung der Bevölkerung steigen. Aber gerade die jungen Russen können nicht mehr an diese Versprechungen glauben, sie halten die Visionen des Präsidenten für realitätsfern. Vieles spricht dafür, dass seine vierte Amtszeit eher von einer Art „Neo-Stagnation“ geprägt sein wird. .

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Die Mehrheit steht hinter Putin

Aber dennoch hat er die Wahl mit großer Mehrheit gewonnen – auch wenn offensichtlich nicht alles mit rechten Dingen zuging. Allerdings wäre er auch bei einer freien und gleichen Abstimmung wieder ins Amt gekommen. Die Mehrheit des Volkes verehrt ihn. Eine Stärke des russischen Präsidenten ist die Inszenierung. Bei allen offensichtlichen Schwächen seiner Regierung gelingt es ihm, gegenüber der eigenen Bevölkerung das Bild eines mächtigen Russlands zu wahren. Seine Rede zur Lage der Nation kurz vor der Wahl war in dieser Hinsicht ein gutes Beispiel: Der Schwerpunkt lag nicht auf dem, was die Menschen im Land direkt betrifft, sondern auf angeblich herausragenden neuen Waffensystemen.
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Putin setzt auf die Außenpolitik

Entsprechend ist davon auszugehen, dass Putin auch künftig auf eine von militärischen Muskelspielen geprägte Außenpolitik setzen wird – ob in Syrien oder in der Ukraine. Wegen der Annexion der Halbinsel Krim sowie wegen der mutmaßlichen Einmischung Moskaus in die US-Präsidentschaftswahl 2016 leidet die russische Wirtschaft zwar erheblich unter internationalen Sanktionen. Doch Putin scheint bereit, diesen Preis zu zahlen.
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Die Probleme im Innern bleiben ungelöst

Die drängenden Probleme im Inneren wird Putin wohl nicht angehen können – oder wollen. Das Land hängt noch immer vom Export von Öl und Gas ab. Dringend nötige Reformen sind nicht in Sicht. „Das Hauptziel des Regimes ist die Sicherung der eigenen Macht“, schreibt der Russland-Experte Andrew Wood vom britischen Forschungsinstitut Chatham House. Es werde daher bis 2024 den schon 2012 von Putin aufgestellten politischen Leitlinien folgen – „auf echte Strukturreformen der Wirtschaft verzichten, da diese mit politischen Risiken verbunden wären; die Bevölkerung unter Kontrolle halten; und weiterhin den Status einer „Großmacht“ anstreben“.

Die zentrale Frage: Was kommt nach Putin?

Wladimir Putins Geburtstag war ein Stimmungstest. Am Wochenende hat sich ein kleiner Einblick in die Gesellschaft geboten, den auch der Kremlchef Ernst nehmen sollte. Aber auch Alexej Nawalny, der Star der Oppositionsbewegung, sollte ins Grübeln kommen.

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Überraschend ruhiger Protest

Die ganz schlimmen Bilder blieben aus. Bei den Protesten im Frühjahr 2017 war es noch zu bösen Ausschreitungen der Polizei gekommen, als sie damals die Demonstranten mit rüder Gewalt von den Straßen räumten. Bei den Protesten gegen Putin an dessen 65. Geburtstag lief alles überraschend ruhig ab.

Nawalny fehlt, war aber immer dabei

Es war ein Protest, den sein Gegner, der zur Zeit inhaftierte Kremlkritiker Alexej Nawalny, organisiert hat.Tausende Menschen gingen von Wladiwostok im Fernen Osten bis nach St. Petersburg an der Ostsee auf die Straße. Der Fokus sollte diesmal nicht auf der Hauptstadt Moskau liegen, wo im März und im Juni bei ähnlichen Protesten gegen die Staatsspitze Hunderte Menschen festgenommen wurden. Jedoch folgten diesmal Nawalnys Aufruf weitaus weniger Menschen. Auch die Polizei verhielt sich in den meisten Städten zurückhaltender.
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Beide Seiten waren vorbereitet

Nicht nur Aktivisten und Anhänger waren vorbereitet, sondern auch die Polizei. Die Behörden wurden besonders im März von den Tausenden Nawalny-Anhängern kalt erwischt, und griffen deswegen besonders hart durch. Landesweit wurden mehr als 270 Menschen festgenommen, weitaus weniger als noch im Frühjahr. Das hört sich zynisch und bitter an – aber es ist ein Erfolg. Und um es positiv zu formulieren: Die Behörden und die Polizei haben sich in den meisten Regionen an den Geist der Verfassung gehalten, indem sie die friedlichen – wenn auch nicht genehmigten – Kundgebungen nicht verhindert haben. In Zukunft könnten wieder mehr Menschen auf die Straßen gehen, und den Funktionären wird es schwer fallen, ein hartes Durchgreifen der Sicherheitskräfte zu rechtfertigen.“

Ein Signal an Nawalny

Dass die Lage diesmal nicht so eskalierte, überraschte den Politologen Waleri Solowej nicht. „Die Behörden wussten, dass die Protest-Dynamik dieses Mal kleiner sein würde“, sagte er dem Internet-Sender Doschd. Die geringere Teilnahme als bei früheren Aktionen sei ein Signal an Nawalny. Er müsse sich möglicherweise eine neue Strategie überlegen. „Man darf die Behörden nicht unterschätzen und nur auf die Kraft des eigenen Aufrufs und Charismas hoffen“, sagte Solowej. Die Polizei habe bereits im Vorfeld mögliche Organisatoren festgenommen und damit auch den Kopf der Bewegung ausgeschaltet.
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Putin gilt als sicherer Kandidat

In wenigen Monaten steht in Russland die Präsidentenwahl an: Putin gilt als sicherer Kandidat, auch wenn er sich selbst noch nicht offiziell dazu bekannt hat. Besonders die russischen Schüler und Studenten, die es immer wieder zu den Protesten zieht, wollen eine Veränderung für Russland – doch sie sind nicht die Mehrheit in Russland. Es gilt nicht nur als sicher, dass Putin im März zu der Wahl antreten wird. Sicher ist auch, dass er die Abstimmung auch ohne Manipulationen oder Repressionsmaßnahmen im Vorfeld gewinnen würde.

Der Machtkampf wird erst beginnen

Der wirkliche Machtkampf wird also erst beginnen, nachdem Putin im kommenden Jahr zum Präsidenten gewählt worden ist. Wird Putin wirklich bereit sein, von der Macht zu lassen, denn die Verfassung erlaubt nur zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten. Er müsste also entweder noch einmal eine aufwendige Rochade inszenieren wie seinerzeit mit seinem Platzhalter Medwedew. Oder er müsste die Verfassung ändern. Es bleiben viele Fragezeichen. Der Machtapparat um Putin könnte sich über Jahre blockieren, weil der Kampf um die Nachfolge das ganze System in einen rasenden Stillstand führt. Es ist nur schwer zu erahnen in einem Apparat, das so sehr auf einen Mann zugeschnitten ist, wie das in Russland der Fall ist.

Lukaschenko kennt keine Gnade

Keine guten Nachrichten aus Weißrussland. Nach Medienberichten sind dort mehr als 700 Demonstranten bei landesweiten Protesten der Opposition festgenommen worden. Unter ihnen waren am Samstag auch Dutzende Reporter aus Weißrussland und dem Ausland, wie die weißrussische Journalistenvereinigung (BAJ) auf ihrer Webseite veröffentlichte.

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Keine Gnade gegen Demonstranten

Das Regime kannte in diesen Tagen keine Gnade gegen die Demonstranten. Spezialeinheiten seien gewaltsam gegen die Menschen in Minsk und in weiteren Städten vorgegangen, die gegen die Politik des autoritären Staatschefs Alexander Lukaschenko protestierten, berichtet das Nachrichtenportal tut.by. Auf Bildern war zu sehen, wie Polizisten Demonstranten in Busse zerrten. Menschenrechtsorganisationen berichteten, wie diese brutal  geschlagen wurden.

Wasserwerfer und Straßenblockaden

Mit Wasserwerfern und Straßenblockaden hatte die Polizei die Menschen zunächst an den Kundgebungen im Zentrum der Hauptstadt Minsk gehindert. Mehrere U-Bahn-Stationen wurden versperrt. Mit dem Symbol der weißrussischen Opposition – der rot-weißen-Fahne – waren die Demonstranten aufmarschiert und skandierten: „Schande!“ und „Es reicht!“.

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„Tag der Freiheit“

Jedes Jahr finden am 25. März in Weißrussland landesweit Demonstrationen gegen Präsident Lukaschenko statt. An diesem Datum feiert die Opposition den „Tag der Freiheit“: Am 25. März 1918 wurde zum ersten Mal die Unabhängigkeit des Landes proklamiert. Die Behörden hatten die Proteste nicht genehmigt.

Zermürbende Krise der Wirtschaft

Seit Februar protestieren in der von einer tiefen Wirtschaftskrise geplagten Ex-Sowjetrepublik zahlreiche Menschen gegen eine Steuer, die Arbeitslose belasten wird. Diese sollen mit der sogenannten Faulenzer-Steuer eine Art Buße zahlen, dabei erhalten sie ohnehin kaum staatliche Mittel zum überleben. Nach Angaben der Nichtregierungsorganisation Wjasna (Frühling) wurden seit Februar mehr als 300 Menschen in Weißrussland festgenommen.

Lukaschenko hatte dem Ausland vorgeworfen, die Demonstrationen zu steuern. Den Teilnehmern der Proteste drohte er bereits im Vorfeld mit einem harten Durchgreifen. In den 23 Jahren seiner Regierungszeit hat Lukaschenko jeden Widerstand gegen seine Herrschaft erstickt.

Hier noch ein Bericht zu den Festnahmen der Journalisten

Polen radikalisiert sich

Alle sind sich einig: solche Szenen hat es seit den Proteste im Jahr 1989 nicht mehr gegeben. In Polen protestieren tausende Menschen vor dem Verfassungsgericht in Warschau gegen die Verfassungsreform der Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS). Die Ereignisse drohen zu eskalieren. Das Ergebnis: eine Blockade der Zufahrten zum Parlament durch Demonstranten und die „Besetzung“ des Plenarsaals durch oppositionelle Abgeordnete.

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Demonstration in Polen gegen die Regierung

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Auslöser: Streit ums Verfassunsgericht

Die Demonstranten unterstützen mit ihren Protesten den Präsidenten des Gerichts Andrzej Rzepliński, dessen Legislaturperiode endet. Rzepliński stellt sich offen gegen die Reform der Regierung. Nach der Meinung der Opposition wolle die Partei von Jarosław Kaczyński das Verfassungsgericht unter eigene Kontrolle stellen. Noch in dieser Woche soll die kürzlich ernannte Verfassungsrichterin Julia Przylebska zur neuen Präsidentin gewählt werden. Nach Dokumenten, die der liberalen „Gazeta Wyborcza“ vorliegen, wurde Przylebska in ihrer früheren Karriere als Richterin wegen angeblicher sachlicher Fehler und überdurchschnittlich hoher Fehlzeiten mehrfach kritisiert.

Angriff auf die Pressefreiheit

Nun ist die rechtsnationale Regierung bei ihrem Ausbau der eigenen Macht auf einem anderen Feld noch einen kleinen Schritt weiter gegangen: die Rechte der Medien im Sejm sollen eingeschränkt werden. Das allerdings ist ein direkter Angriff auf die Pressefreiheit – und damit auch auf die Demokratie. Die Medien haben die Aufgaben, Öffentlichkeit und Transparenz herzustellen, auf diese Weise kontrollieren sie die Machthabenden.

 Perfider Plan der Regierung

Das alles folgt einem perfiden Plan, den die PiS-Regierung vorantreibt. Die Exekutive blockiert seit Monaten das Verfassungsgericht und hat auf diese Weise die Judikative unter ihre Kontrolle gebracht. Mit der Kontrolle der Medien wäre auch die Legislative im Würgegriff der PiS. Das wollen die Demonstranten verhindern.

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Auch im Sejm selbst wird der Widerstand gegen das scheinbar willkürliche Schalten und Walten der Machthaber immer heftiger. Als ein Abgeordneter gegen die Restriktionen gegenüber den Medien in einer Rede protestierte, eskalierte die Situation. Nach einem verbalen Schlagabtausch zog am Freitag die Fraktion der PiS aus dem Plenarsaal aus und kam in einem anderen Saal, dem Säulensaal, zusammen. Zunächst schien es, die Partei wolle eine Art Fraktionssitzung abhalten – doch plötzlich hieß es, es finde dort eine Plenarsitzung statt. Verabschiedet wurde der Staatshaushalt 2017 – nicht wie üblich elektronisch, sondern durch Handzeichen. Die Opposition und einige Juristen kritisieren bereits, dass nicht mehr nachzuprüfen sei, ob die Kammer überhaupt beschlussfähig war.
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Radikalsierung der Proteste

Festzustellen ist inzwischen eine Radikalisierung der Proteste. Seit einem Jahr laufen die Demonstrationen friedlich ab und die Organisatoren versuchten, allzu große Provokationen zu vermeiden. Das außerparlamentarische „Komitee zur Verteidigung der Demokratie“ (KOD) rief immer wieder zu Zurückhaltung auf. Doch die Unzufriedenheit unter den Demonstranten wird größer. Sie sehen, dass ihre Aktionen praktisch keine Wirkung haben, dass die PiS-Regierung unbeirrt ihren Weg der Machtkonzentration geht. Längst machen Parolen die Runde, das Volk müsse zum „zivilen Ungehorsam“ übergehen – wie Ende der 80er Jahre, als das kommunistische Regime gestürzt worden war.

Nachtrag:

Journalisten dürfen doch weiter aus dem Parlament berichten. Die polnische Regierung zieht die umstrittene Regelung zurück. Präsident Andrzej Duda sagte im Staatsfernsehen, dass die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) auf die umstrittenen Regelungen verzichte. Die Diskussion sei vom Tisch. Zuvor hatte Duda Krisengespräche mit den Chefs aller Parteien im Parlament geführt.

Duda forderte die Opposition zu einer „Geste des guten Willens“ auf. Jetzt, wo die Regierung auf ihr Reformvorhaben verzichtet habe, solle die Opposition ihre Proteste beenden. „Außerdem stehen die Weihnachtsferien bevor“, sagte Duda, und die Polen seien besorgt. Er wolle, dass das Problem gelöst sei.

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Wer sich einen Eindruck der Demonstrationen verschaffen will: hier sind noch beeindruckende Aufnahmen des Fotografen Jacek Taran, der die Proteste als Fotojournalist von Beginn an verfolgt.

Was kommt nach der Willkommenskultur?

Das Willkommens-Fest über vorüber. Die Meldungen über Proteste gegen Flüchtlingsheime nehmen wieder zu. Die Signale sind kaum mehr zu übersehen: Die Stimmung in der Flüchtlingskrise kippt!

15.09.24-flucht Immer häufiger werden Demonstrationen gegen die Asylpolitik organisiert.

„Wir schaffen das!“

Es war irgendwie schön. Nicht nur viele Menschen, sondern auch die meisten Politiker zogen an einem Strang. Sogar die Bundeskanzlerin Angela Merkel wagte sich aus der Deckung und sprach über die deutsche Verantwortung, all jenen zu helfen, die vor Krieg und Elend in die Bundesrepublik fliehen. „Wir schaffen das“, hieß ihre Losung und erinnerte damit etwas an die Figur „Bob der Baumeister“, der alle Probleme wohlgemut angeht und dann zusammen mit seinen Freunden immer eine Lösung findet.

In dieser Stimmung wurden die gewaltigen Herausforderungen gerne etwas heruntergespielt: Hunderttausende Menschen brauchen eine Unterkunft, sie müssen mit Essen, Wohnungen, Schul- und Kitaplätzen und Jobs versorgt werden.

Das Ansehen Merkels sinkt

Nun aber wird allmählich deutlich, wie große die Belastungen für Deutschland tatsächlich sind. Das hat Folgen, Unmut macht sich breit – nicht nur in Teilen der Bevölkerung, sondern auch in der Partei von Angela Merkel. In Umfragen hat das Ansehen der Kanzlerin wegen ihrer Flüchtlingspolitik erste Kratzer bekommen. Auch anderswo brodelt es. Und Bundespräsident Joachim Gauck – dessen Verhältnis zu Angela Merkel nicht immer ungetrübt ist – spricht Ängste vor Überforderung offen an. Er stimmt das Land auf eine große Kraftanstrengung ein. Die sei zu bewältigen. Aber niemand dürfe die Augen verschließen vor Ängsten, Konflikten und Verteilungskämpfen. Deutschlands Möglichkeiten seien endlich.

Die Probleme sind offensichtlich

Die Probleme liegen auf der Hand. Bis zu einer Million Asylbewerber erwarten die Behörden in diesem Jahr. Etwa 40 Prozent von ihnen werden wohl in Deutschland bleiben. Das Asylsystem war darauf nicht ansatzweise vorbereitet. Unterkünfte sind restlos überfüllt, die Behörden kommen bei der Bearbeitung der Asylanträge nicht hinterher. Auch bei der Integration derer, die bleiben, hakt es. Gauck sagt, ein Wettbewerb um billige Wohnungen, um Kindergarten- und Schulplätze sei absehbar.

Ein Affront der CSU

Längst murren die Abgeordnete von CDU und CSU nicht mehr nur in den Hinterzimmern. Immer mehr Christdemokraten warnen vor nicht zu bewältigenden Lasten und erwarten, dass ihre Regierungs- und Parteichefin in der Flüchtlingspolitik Grenzen aufzeigt. Ganz zu schweigen von den rüden Attacken des CSU-Chef Horst Seehofer, der längst offen auf Konfrontationskurs zu Merkel gegangen ist. Die Einladung des rechtspopulistischen ungarischen Premiers Viktor Orban zu einer CSU-Tagung war, gelinge gesagt, ein Affront!

Angela Merkel zeigt sich bislang wenig beeindruckt. Doch sie sieht auch, dass ihr die Flüchtlingsdebatte Beliebtheitspunkte gekostet hat. Unions-Politiker fürchten, dass sie den Rückhalt ihrer Wählerschaft verlieren, während Rechtspopulisten Aufwind bekommen. Die rechtskonservative AfD legte zuletzt in einer Umfrage auf sechs Prozent zu. Auch anderswo in Europa kommt das Flüchtlingsthema rechtspopulistischen Kräften zugute.

Unmut im Wahlvolk

Aber nicht nur die Union muss sich um die Stimmung ihrer Basis sorgen und darum, dass potenzielle Wähler an den rechten Rand verloren gehen könnten. Auch die Linke bekommt zu spüren, wie sich in Teilen ihrer Anhängerschaft Unmut breitmacht – wie sich Arbeitslose und Hartz-IV-Empfänger vernachlässigt fühlen, die Hilfsbemühungen und Milliardenausgaben für Flüchtlinge argwöhnisch beäugen und befürchten, am Ende selbst zu kurz zu kommen.

Bei den meisten Menschen äußert sich der Unmut noch im politischen Rahmen. Doch immer häufiger zeigt sich offener Hass und Gewalt. Die Zahl der Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte ist in den vergangenen Monaten sprunghaft gestiegen. Im ersten Halbjahr waren es mit etwa 200 Straftaten schon so viele wie im gesamten Vorjahr. Zuletzt ging es weiter kräftig nach oben: Ende August waren es mehr als 330 Straftaten, und drei Wochen später schon mehr als 430.

Das Problem der „neuen Täter“

Vieles sind Schmierereien oder Sachbeschädigungen. Aber auch Gewalttaten nehmen zu: Körperverletzungen und Brandstiftungen. Und das, was die Polizei über die Tatverdächtigen weiß lässt aufhorchen. Etwa 70 Prozent von ihnen sind vorher nicht durch rechtsmotivierte Straftaten ihn Erscheinung getreten. Es sind also „neue Täter“. Den Sicherheitsbehörden bereitet das Sorgen. Dazu kommen Pöbeleien gegen Flüchtlinge im Alltag und rechte Hetze im Netz. All das ist das „Dunkeldeutschland“, von dem Gauck vor wenigen Wochen sprach.

Nach der ersten Euphorie macht sich bei den Politikern nun Ernüchterung breit und an manchen Stellen in der Gesellschaft bricht sich blanker Hass die Bahn. Angela Merkel muss nun also an zwei Fronten kämpfen: die Flüchtlinge müssen versorgt und untergerbacht werden – aber auch der deutschen Gesellschaft muss die Kanzlerin nun vermitteln, dass die Probleme sehr groß aber dennoch lösbar sind.