Ein Imam spaltet Belgien

Einer der bekanntesten muslimischen Prediger darf nicht mehr einreisen. Ihm wird vorgeworfen, eine Gefahr für die nationale Sicherheit zu sein.

.

Der Imam Mohamed Toujgani soll bei einer Predigt im Jahr 2009 Hassreden gehalten haben.

.

Imam in der größte Moschee in Brüssel

Nach dem Freitagsgebet stehen die Gläubigen noch in kleinen Grüppchen vor der Al-Khalil-Moschee in Brüssel zusammen. Belangloser Klatsch und Tratsch werden ausgetauscht, doch immer wieder fällt auch ein Name: Mohamed Toujgani. Vier Jahrzehnte war der Mann Imam im größten islamischen Gotteshaus von Brüssel, über 3000 Menschen versammeln sich dort regelmäßig zum Gebet. Doch nun wurde der Prediger aus Belgien ausgewiesen, er stelle eine Gefahr für die nationale Sicherheit dar, heißt es von Seiten der Behörden.

„Diese Beschuldigungen sind völliger Unsinn“, sagt ein Mann vor der Moschee. Der Imam habe immer den Frieden gepredigt. Andere Gläubige bestätigen diese Aussage, manche müssen ihre Antworten übersetzen lassen, sie sprechen nur Arabisch. Einig sind sich alle darin, dass die Ausweisung Mohamed Toujgani ein gezielter Angriff auf die Gemeinschaft der 400.000 Muslime in Belgien sei.

.

.

Molenbeek ist als „Terror-Hauptstadt“ verschrien

Welche neuen Erkenntnisse es inzwischen gegen den Imam gibt, ist nicht ganz klar. Ein Video macht die Runde, in dem der Prediger fordert, dass die „zionistischen Unterdrücker verbrennen“ müssten. Der Clip stammt allerdings aus dem Jahr 2009, jenem Jahr, als das israelische Militär eine blutige Offensive im Gazastreifen durchführte. Erinnert wird auch daran, dass Chakib Akrouh, einer der Attentäter vom 13. November in Paris, in die Al-Khalil-Moschee zum Beten kam. Seit den Anschlägen ist der Brüsseler Stadtteil Molenbeek, aus dem mehrere Täter stammten und in dem auch das Gotteshaus liegt, als eine Art „Terror-Hauptstadt“ verschrien. Dort leben knapp 100 000 Menschen und er gilt als Synonym für die gescheiterte Integration der Muslime, die sich eine Parallelwelt aufgebaut hätten.

Sorge bereitet den belgischen Behörden offensichtlich, dass sich die Gläubigen den Lebensstil ihres Imams zum Vorbild nehmen könnten. Obwohl Mohamed Toujgani seit 40 Jahren in Belgien lebt, spricht er weder Französisch noch Niederländisch. Er hat mehrere Frauen, von denen eine mit ihm in Belgien lebt. Der Imam ist die Inkarnation einer sehr konservativen, sunnitischen Glaubensrichtung, die er vehement predigt und die jede Integration in die belgische Gesellschaft ablehnt. Diese Interpretation des Korans wird auch in der an die Moschee angeschlossene Schule gelehrt. 500 Kinder bekommen dort Arabischunterricht, auch eine staatlich anerkannte Grundschule gehört zur Moschee. Finanziert wird der gesamte Komplex ausschließlich aus Spenden.

.

.

Ein typischer Vertreter seiner Generation

Mohamed Toujgani sei der typische Vertreter der Generation der ersten Imame, die nach Belgien kamen, erklärt Corinne Torrekens, Professorin für Politikwissenschaft in Brüssel und Spezialistin für zeitgenössischen Islam. Auch sie findet seine Interpretation des Korans überaus bedenklich, kann sich aber nicht vorstellen, dass er die große Gefahr darstelle, die die Behörden in ihm nun sehen. Auch kritisiert Corinne Torrekens, dass die Behörden keine konkreten Vorwürfe gegen Mohamed Toujgani vorbringen. Aufgelistet werden in den Sicherheitsberichten allerdings „zahlreiche Predigten, die zu Hass und Gewalt aufstacheln“ und die „die Verbreitung rassistischer oder diskriminierender Ideen gegen die jüdischen und schiitischen Gemeinschaften“ in Belgien.

Doch auch in der muslimischen Gemeinde regt sich Widerstand und nicht alle Gläubigen wollen mit dem umstrittenen Iman in einen Topf geworfen werden. Die Exekutive der Muslime Belgiens betonte in diesen Tagen ausdrücklich, dass der Entzug der Aufenthaltserlaubnis für Mohamed Toujgani eine „ausschließlich private Angelegenheit“ sei. Zudem gebe es „keine Autoritätsbeziehung zu den Imamen“ der Al-Khalil-Moschee. Längst hat der der Streit auch die Politik erreicht. Migrations-Staatssekretär Sammy Mahdi, der für die Ausweisung verantwortlich zeichnet, sah sich sogar gezwungen, in der Zeitung „Le soir“ einen offenen Brief zu veröffentlichen. Zuvor war der 33-Jährige, der einen irakischen Vater hat, von vielen Muslimen als Verräter beschimpft und bedroht worden. „Hätte ich die Berichte der Sicherheitsdienste ignorieren sollen, weil meine Wurzeln bis nach Bagdad reichen?“ fragt Sammy Mahdi. Die Angriffe auf ihn kamen sogar aus der eigenen, konservativen Partei. Ahmed El Khannouss, ehemaliger Gemeinderat in Molenbeek, hatte Sammy Mahdi auf Facebook vorgeworfen, den extremen Rechten Konkurrenz machen zu wollen. Der Lokalpolitiker hat sich inzwischen von seinen Aussagen distanziert – allerdings erst, als im angedroht wurde, aus der Partei ausgeschlossen zu werden.

Der Terror trifft auf eine verunsicherte Gesellschaft

Frankreich wird immer wieder zum Ziel terroristischer Anschläge. Eine zentrale Rolle spielt das nicht geklärte Verhältnis zwischen dem Islam und der säkularen Gesellschaft.

.

.

Frankreich von Bluttat erschüttert

Frankreich wird zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage von einer brutalen Bluttat erschüttert. In Lyon wurde ein orthodoxer Priester vor seiner Kirche mit einer Schrotflinte angeschossen und ringt nun mit dem Tod. Mit großer Sorge stellen sich viele Franzosen die Frage, ob es sich wieder um einen Terrorakt handeln könnte, doch das ist derzeit noch unklar.

Der Angriff auf den Priester trifft das Land in einer Phase, in der wieder einmal über die Rolle des Islam, Radikalisierung und Zuwanderung gestritten wird. Der Schock über den Angriff eines islamistischen Attentäters in der Basilika Notre-Dame in Nizza sitzt den Franzosen noch in den Knochen. Drei Menschen wurden dabei bestialisch getötet und sechs weitere verletzt. Der Angreifer, ein junger Migrant aus Tunesien, wurde von Polizisten angeschossen und liegt schwer verletzt im Krankenhaus. Erst vor zwei Wochen war der Lehrer Samuel Paty in Paris von einem Attentäter enthauptet worden, nachdem er im Unterricht Karikaturen des Propheten Mohammed gezeigt hatte.

.

Innenminister Darmanin will hart gegen Islamisten vorgehen

.

Frankreich reagiert hart auf die Bedrohung

Die Politik reagierte, wie sie immer nach solchen Anschlägen reagiert: Premierminister Jean Castex hat die höchste Terrorwarnstufe für das Land ausgerufen. Präsident Emmanuel Macron kündigte an, die Zahl der Soldatinnen und Soldaten zu erhöhen, die Gotteshäuser und Schulen schützen sollen. Natürlich begrüßen die allermeisten Bürger diese Demonstration der Stärke, doch gerade die Angriffe der vergangenen Tage durch radikalisierte Einzeltäter zeigen, dass diese Sicherheit eine trügerische ist. Immer mehr Franzosen stellen sich die Frage, weshalb ausgerechnet ihr Land immer wieder Ziel von solchen Terrorangriffen wird? Im Mittelpunkt steht dabei sehr das Verhältnis der Gesellschaft zum Islam.

Die meisten Erklärungsversuche gehen weit in die Kolonialzeit zurück, als Frankreich etwa in Algerien und anderen afrikanischen Staaten das Sagen hatte. Anfangs noch ignoriert, wurden nach der Arbeitsmigration während der Wirtschaftswunderjahre in den Ballungsräumen um Paris, Lyon oder Marseille die ersten Schwierigkeiten im Zusammenleben deutlich. Wirklich reagiert hat der Staat allerdings erst, als der wachsende Islamismus etwa während des algerischen Bürgerkriegs in den 1990er Jahren zunehmend das Leben in Frankreich bedrohte. In diesem Zusammenhang thematisierten vor allem junge französische Muslime immer lauter die koloniale Vergangenheit Frankreichs, was das schwierige Verhältnis vieler Muslime zur Republik deutlich werden ließ.

.

.

Dem Staat fehlt der Ansprechpartner

Ein zentrales Problem ist auch noch heute, dass es dem Staat in den Reihen der Muslime an verbindlichen Ansprechpartner fehlt. Zwar wurde 2003 der französische Islam-Rat (Conseil français du culte musulman – CFCM) eingerichtet, doch das Problem ist, dass das Gremium nur einen Bruchteil der Gläubigen repräsentiert und weit entfernt davon ist, die französischen Muslime zu repräsentieren. Seine Stimme wird bei den immer wieder mit großem Eifer geführten Diskussionen um das Kopftuch oder Halal-Essen in Schulkantinen kaum gehört.

Wesentlich mehr Erfolg mit der Selbstdarstellung haben in diesem Fall die extremen Rechten in Frankreich, die das Misstrauen in den Islam gezielt schüren. Dabei sind beide Extreme auf unheilsame und zynische Weise in ihrer Argumentation voneinander abhängig. Die Islamisten brauchen die Rechtsextremen, um behaupten zu können, dass die französische Gesellschaft rassistisch ist. Und die extreme Rechte braucht die Islamisten, um die Gefahren durch den Islam aufzubauschen und sich als Verteidiger der christlichen Zivilisation präsentieren zu können.

.

.

Franzosen fürchten die Überfremdung

Allerdings hat die Angst vor Überfremdung längst die Mitte der französischen Gesellschaft erreicht. Das zeigt eine aktuelle Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ifop, der zufolge denken acht von zehn Franzosen, dass der Säkularismus in Gefahr sei. Sie sehen den Islam zunehmend als Bedrohung für den französischen Lebensstil.

Auf der anderen Seite beklagen die Muslime immer lauter, dass sie sich als Fremde im eigenen Land fühlen würden. Der prominente Lyoner Imam Kamel Kabtane kritisierte jüngst eine „zänkische und gefährliche Medien- und Politik-Kampagne gegen Muslime und den Islam“. Mit dieser würden „Franzosen gegen Franzosen“ aufgewiegelt, sagte er. Kritisiert wird auch, dass Muslime nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch in der Schule und bei der Wohnungssuche schlechtere Chancen hätten.

Viele Muslime kapseln sich ab

Nicht zuletzt aus diesem Grund würden viele Muslime beginnen, sich abzukapseln und regelrecht in ihre Gettos zurückzuziehen. Der französische Soziologe Bernard Rougier warnte, dass inzwischen ganze Viertel in französischen Vorstädten mit ihren gesichtslosen Plattenbausiedlungen unter die soziale Kontrolle von Islamisten geraten seien. Diese fänden unter den Abgehängten und frustrierten Jugendlichen viele Anhänger. Mit seinen Thesen wendet er sich auch ausdrücklich gegen die vor allem bei französischen Linken populäre Annahme, dass allein die soziale Misere der Grund für die Gewaltausbrüche junger Muslime sei – andere Begründungen werden von ihnen gerne als „islamophob“ gebrandmarkt.

.

Emmanuel Macron über die Lage in Frankreich

.

Macron bekämpft den Separatismus

Nachdem schon mehrere französische Präsidenten das „Problem der Vorstädte“ lösen wollten, hat nun auch Emmanuel Macron das Thema für sich entdeckt. Neu an seiner Offensive ist, dass er offen anspricht, dass der „islamistischen Separatismus“ bekämpft werden müsse. Weil etwa zu viele Imame in Frankreich, die im Ausland ausgebildet werden, „gegen die Republik“ predigen würden, will er deren Arbeit in Zukunft verbieten.

Das allerdings sieht etwa der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan als Affront – auch weil viele zahlreiche Imame aus der Türkei kommen und er auf diese Weise ein Mittel der direkten Einflussnahme verlieren würde. Der Hass, mit dem er und viele anderen Staatsmänner der islamischen Welt in den vergangenen Tagen gegen Emmanuel Macron hetzten, wirkt in der angespannten Situation wie ein Brandbeschleuniger. Manche jungen Männern in Frankreichs verlorenen Vororten könnten diese Tiraden als Aufforderung zum Handeln verstehen.

Frankreich holt Dschihadisten aus Syrien zurück

Frankreich reagiert auf den angekündigten Rückzug der US-Truppen aus Syrien. Innenminister Christophe Castaner hat angekündigt, rund 130 in Nordostsyrien inhaftierte mutmaßliche Dschihadisten in den kommenden Wochen nach Frankreich zu holen.

.

19.01.29-castaner

.

Dschihadisten kommen in Haft

„Alle, die nach Frankreich zurückkehren, werden strafrechtlich verfolgt“, unterstrich Castaner im Interview mit dem Nachrichtensender BFM TV am Dienstag. Die meisten von ihnen würden dann inhaftiert. „Einige sind bereits zurückgekehrt und sitzen im Gefängnis, wir kennen sie“, so der Minister weiter. Das bedeutet eine Wende: bisher lehnte die Regierung in Paris eine Rückkehr der Kämpfer ab.

Die Männer und Frauen stehen im Verdacht, Frankreich verlassen zu haben, um sich in Syrien der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) anzuschließen. Im Nordosten des Landes werden sie nach Angaben des Senders „unter kurdischer Aufsicht“ festgehalten. Französische Behörden befürchten, dass bei einem Rückzug der US-amerikanischen Truppen aus Ostsyrien dort eine Lage entstehen könnte, in der die mutmaßlichen Dschihadisten freikommen könnten. Deshalb sollen sie nun in Frankreich vor Gericht kommen.

.

.

Die Opposition kritisiert Castaner

Die Opposition hat sich natürlich auch schon zu Wort gemeldet und kritisiert den Schritt des Ministers scharf. So erinnert Laurent Wauquiez, Chef der konservatien Partei Les Républicains daran, dass Castaner schon vor einem Jahr gesagt habe, dass er die Terroristen aufnehmen wolle. Wauquiez selbst fordert hingegen, allen die Rückkehr zu verbieten, die in Syrien gekämpft haben.

.

.

In französischen Gefängnissen sind derzeit rund 500 Dschihadisten inhaftiert, die sich in Syrien und dem Irak verschiedenen islamistischen Terrorgruppen angeschlossen haben. Der auf nationale Sicherheit spezialisierte US-amerikanische Thinktank „The Soufan Center” schätzt, dass seit dem Ausbruch des Bürgerkrieges im Jahr 2011 rund 2.000 Franzosen dem IS beigetreten sind.

US-Präsident Donald Trump hatte kurz vor Weihnachten angekündigt, die in Syrien stationierten 2.000 US-Soldaten abzuziehen und erklärt, der IS sei besiegt. Experten halten die Terrormiliz in Syrien zwar für massiv geschwächt, aber noch lange nicht für geschlagen.

Traurige Grafik zu Terroranschlägen

Die Menschen in Europa reden in dieser Zeit sehr viel von Terroranschlägen. Noch nie schienen so viele Opfer gezählt worden zu sein wie in diesen Monaten. Doch ist das wirklich so? Eine interessante Grafik von Datagraver gibt darüber einigen Aufschluss.

16.08.02-grafik-terror

Traurige Statistiken

Im Jahr 2015 starben insgesamt 175 Menschen durch terroristische Anschläge. Mehr waren es elf Jahre zuvor. 2004 wurden 196 Opfer gezählt. Allein 191 Menschen starben bei den Attentaten in Madrid. Es zeigt sich also: schon ein schwerer Anschlag kann die gesamte Statistik verändern. Die meisten Menschen starben im Jahr 1988 in Westeuropa. 270 Menschen kamen bei dem Anschlag auf den Pan-Am-Flug über Lockerbie ums leben.

Unter dem folgenden Link wird die Statistik genauer erklärt. Auch die Datenbasis ist erläutert. Zudem sind noch andere Auswertungen zu sehen.

Und hier der Link zu der Seite von Datagraver

Aus Wut wird Hass und dann Gewalt

Der Psychologe Jan Kizilhan erklärt, warum Menschen zu Waffen greifen. Und was der Unterschied zwischen einem Terroristen und einem Amokläufer ist.

16.07.25-Kizilhan

Der Psychologe Jan Kizilhan

Die Gefahr von Nachahmungstätern ist hoch

Es gibt keine einfachen Erklärungen dafür, weshalb ein Mensch zur Waffe greift und um sich schießt. Für Jan Kizilhan gehört es allerdings zum Beruf, sich auf die Suche nach den Gründen für solche Bluttaten zu machen. Der Psychologe ist Professor an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg und leitet dort den Studiengang für Soziale Arbeit mit psychisch Kranken. Er ist wenig erstaunt darüber, dass es im Moment immer wieder zu Anschlägen kommt. „In einer Atmosphäre des allgemeinen Terrorismus kommen diese Menschen eher auf die Idee, gewalttätig zu werden“, sagt Kizilhan. Die  Gefahr von Nachahmungstätern sei also sehr hoch.

Allerdings macht der Professor eine klare Unterscheidung zwischen Terroranschlag und Amoklauf. Amokläufer seien fixiert auf sich selbst, die eigenen Probleme, die von außen erfahrene Demütigung. Diese Menschen hätten fundamentale Schwierigkeiten mit dem Selbstwertgefühl. „Sie empfinden Wut und Hass auf die Welt und kommen damit nicht zurecht“, erklärt Kizilhan. Und weiter: „Durch das Töten bekommt ein Amokläufer Macht über einen Menschen –  er fühlt sich Gott-gleich.“

Ein Terrorist hat eine andere Motivation

Ein Terrorist habe eine ganz andere Motivation zu Töten, erklärt der Psychologe. „Der Terror des IS ist politisch und religiös motiviert. Getötet wird mit der Absicht, Gutes zu tun –  auch über den eigenen Tod hinaus.“ Natürlich gebe es bei beiden Typen Berührungspunkte. Auch ein Terrorist könne aus einer „Selbstwertproblematik“ heraus radikalisiert werden. Und auch ein Amokläufer könne sich einen ideologischen Überbau für seine Tat zusammenbasteln. Als Beispiel dafür nennt Kizilhan den Norweger Andres Breivik. In eine noch andere Kategorie falle wohl der Mord in Reutlingen. „Nach allem, was wir im Moment wissen, ist das eher eine Art Ehrenmord“, sagt Jan Kizilhan. Da geht es um Respekt, zurückgewiesene Zuneigung einer konkreten Person und verletzte Ehre.

Wenig erstaunlich ist es in den Augen des Experten, dass vor allem junge Männer zu den Tätern zählen. „Wir leben noch immer in einer von Männern dominierten Gesellschaft. Das heißt, wir verhalten uns geschlechterspezifisch“, beschreibt der Professor. Männer reagierten aggressiv, Frauen eher kommunikativ-zurückhaltend. Und auch für die Tatsache, dass kaum ältere Männer zu Tätern werden, hat er eine Antwort: „Die haben die Zeit des Aufstandes längst hinter sich.“

Die Gesellschaft kann sich wehren

Die Gesellschaft sei der steigenden Zahl von Anschlägen nicht hilflos ausgeliefert. Jan Kizilhan unterstreicht, dass viele Täter „vom System aufgefangen“ werden könnten. Konkret heißt das: die potenziellen Täter zeigten in ihrem sozialen Umfeld schon früh eine höhere Verhaltensauffälligkeit. Oft seien es Einzelgänger, sie hätten große Schwierigkeiten, sich mitzuteilen oder in die Gemeinschaft einzufügen. Er fordert etwa, dass in den Schulen mehr auf solche Entwicklungen geachtet werde. „Psychologen könnten rechtzeitig eingreifen und mit den jungen Leuten reden“, sagt Jan Kizilhan. „Unsere Verantwortung ist es, im Umfeld wach zu sein.“

Der Psychologe rät der Gesellschaft, trotz der vermeintlich erhöhten Bedrohungslage ruhig zu bleiben. „Die subjektive Angst ist da, dem müssen wir mit Rationalität begegnen.“ Hier sieht er vor allem die Politiker – und auch die Medien – in der Pflicht. Es müsse immer wieder erklärt werden, dass es sehr unwahrscheinlich ist, Opfer eines Attentates zu werden. Natürlich sieht Kizilhan die Gefahr, dass internationale Terroristen auch in Deutschland mit schweren Attentaten zuschlagen könnten. „Am Anfang würde sich Hysterie, Panik und Angst verbreiten“, sagte er, „aber wir würden schnell lernen, damit zu leben. Das ist wie das Leben im Krieg, an das die Menschen sich gewöhnen. Wir werden unser Verhalten daran anpassen.“

Die AfD vergiftet die Gesellschaft

Was die AfD im Fahrwasser der Anschläge betreibt, hält der Psychologe für extrem kontraproduktiv. „Die Äußerungen der AfD-Vertreter schüren gezielt die Angst der Menschen.“ Das sei Gift für die ganze Gesellschaft. Kizilhan bringt den Ablauf in ein einfaches Bild: „Wir haben Angst, sind verunsichert, schlafen schlecht, werden noch nervöser, sind böse zu unseren Nachbarn, zur Familie und natürlich auch zu Migranten.“ Er unterstreicht wiederholt, dass die einzige Lösung sei, rational auf die vermeintliche Bedrohung zu reagieren.

Hoffnungslosigkeit wird zu Hass

Schon wieder ein Anschlag, schon wieder müssen unschuldige Menschen sterben. Dieses Mal hat sich ein Selbstmordattentäter in einem beliebten Touristenviertel in der Altstadt von Istanbul in die Luft gesprengt. Mindestens zehn Menschen wurden getötet, darunter viele Ausländer. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sagt, die Spur des Attentäters führe nach Syrien.

16.01.12-Istanbul-cnn

Das Ziel der Attentäter

Attentate auf Urlaubsziele verursachen nicht nur einen immensen wirtschaftlichen Schaden für die Reiseveranstalter und die Händler vor Ort, sie haben auch einen hohen symbolischen Wert. Es ist die Zeit, in der die Menschen Sorglosigkeit und Entspannung suchen, doch Terroristen säen Tod und Verderben.

Über das Ziel der Terroristen herrscht kein Zweifel. Sie wollen Angst und Schrecken verbreiten, sie wollen, dass wir unsere Freiheit einschränken, sie wollen damit unsere demokratische Gesellschaft ins Mark treffen. Das dürfen wir nicht zulassen.

————————————–

Hier ist der Hinweis des Auswärtigen Amtes und hier geht es zur Seite des Auswärtigen Amtes:

„Am späten Vormittag des 12. Januar ist es auf dem At Meydani in der Innenstadt von Istanbul zu einer Explosion gekommen. Dabei sind auch Menschen zu Schaden gekommen. Reisenden in Istanbul wird dringend geraten, Menschenansammlungen auch auf öffentlichen Plätzen und vor touristischen Attraktionen vorläufig zu meiden und sich über diese Reisehinweise und die Medien zur Lageentwicklung informiert zu halten.“

————————————–

Hilft mehr Polizei?

Der Ruf nach schärferen Überwachungsgesetzen – nach mehr Polizeistaat – wird nun auch in Deutschland wieder laut werden. Dieser Reflex ist verständlich, doch das hieße, den Terroristen nachzugeben. Sie wollen, dass wir aus Angst vor weiteren Anschlägen unsere Freiheit selbst von ihnen aushöhlen.

Natürlich muss die Polizei ihre Arbeit erledigen – angesichts der immer vielfältiger werdenden Aufgaben ist das für die Beamten aber kaum mehr möglich. Hier muss angesichts der aktuellen Entwicklung von der Politik nachgebessert werden. Die Demokratie muss zeigen, dass sie sich auch wehren kann.

Das aktuelle Beispiel in Istanbul zeigt, dass es trotz des massiven Einsatzes der Polizei praktisch nicht möglich ist, alle Anschläge zu verhindern. Kaum ein anderes Land in Europa hat ein so gut ausgebautes Überwachungssystem wie die Türkei. Es muss also sehr viel mehr für die Prävention getan werden, die Wurzel des Übels muss bekämpft werden. Das heißt, es ist sehr genau zu analysieren, woher die Täter kommen und weshalb sie zu Terroristen werden.

Die meisten dieser Menschen werden getrieben von Hoffnungslosigkeit, die irgendwann in Hass umschlägt.

Keine Unstützung für Diktaturen

Wer Diktaturen unterstützt, unterstützt die Hoffnungslosigkeit. Im Arabischen Frühling hat sich dieser Zorn des Volkes nach innen entladen und Regime in den Abgrund gerissen. Naiv war zu glauben, dass sich die Demokratie in der Region ohne Geburtswehen ausbreiten wird. Es wird noch lange dauern, bis sich die Staaten wieder stabilisiert haben. Falsch aber ist es, deshalb neue Diktatoren – wie im Moment in Ägypten – vorbehaltlos zu unterstützen, nur weil sie für den Moment Stabilität verheißen.

Der Westen muss gezielt Druck auf die Regierungen ausüben, damit sie sich in Richtung Demokratie und freier Wirtschaft entwickeln. Aber: Blaupausen kann es nicht geben! Der Westen muss auch akzeptieren, dass sich eine „arabische Gesellschaft“ in gewisser Weise von einer „europäischen Gesellschaft“ unterscheiden kann. Die arabischen Staaten müssen – unterstützt vom Westen – ihren eigenen Weg in Richtung Freiheit und Demokratie finden. Gelingt das, wird das Volk auch wieder Hoffnung auf eine bessere Zukunft schöpfen.

 

——————————–

16.01.12-Istanbul-karte

 

Hier noch eine Infobox zum Stadtteil Sultanahmet, wo der Anschlag stattfand:

Der Stadtteil Sultanahmet in Istanbul gilt als eines der beliebtesten Ausflugsziele in der Türkei für Touristen aus aller Welt. Benannt ist er nach Ahmet I., der als Sultan von 1603 bis 1617 über das Osmanische Reich herrschte. Das Altstadtviertel liegt auf einer Halbinsel im europäischen Teil Istanbuls. Hier befand sich auch das Zentrum des historischen Konstantinopels. In der Nähe des zentralen Sultanahmet-Platzes stehen mit der Blauen Moschee, der Hagia Sophia und dem Topkapi-Palast die bekanntesten Sehenswürdigkeiten der Stadt. Auf dem Platz steht auch der Deutsche Brunnen, der im Andenken an einen Besuch des deutschen Kaisers Wilhelm II. in Istanbul im Jahre 1898 errichtet wurde. 1985 erklärte die Unesco das Viertel zum Weltkulturerbe.

Bachmanns „Provokation“

Lutz Bachmann hat es wieder einmal geschafft. Mit einem Tweet brachte er erneut in Erinnerung, was wirklich hinter Pegida und den so genannten „besorgten Bürgern“ steckt.

16.01.01-bachmann03

Als die Nachricht von der Terrorwarnung in München in den sozialen Netzwerken die Runde machte, sorgten sich Millionen Deutsche kurz vor Neujahr um die Sicherheit in ihrem Land. Der Hauptbahnhof in München und der Bahnhof im Stadtteil Pasing wurden zwischenzeitlich geschlossen, da die Polizei konkrete Hinweise hatte, dass islamistische Täter Anschläge geplant hatten.

16.01.01-bachmann04

Für Lutz Bachmann, der die „Pegida“-Bewegung anführt, war diese kurze Nachricht natürlich Wasser auf seine Mühlen. Kurz vor Mitternacht kommentierte der 42-Jährige die Terrorwarnung auf Twitter.

In den vergangenen Monaten waren Tausende Flüchtlinge aus Syrien am Bahnhof in München angekommen und von den meisten freundlich empfangen worden.


Das ist ein Bericht der Deutschen Welle über die Terrorwarnung in München.

 

Bachmann nutzte die neuerliche Terrorwarnung nun, um „Pegida“-Propaganda zu betreiben und spielt mit dem #RefugISISnotWelcome auf #RefugeesWelcome an. Unter dem Hashtag twittern Europäer seit Monaten, dass Flüchtlinge durchaus willkommen sind.

Für seinen provozierenden Tweet erntete Bachmann gleich reihenweise Kritik.

16.01.01-bachmann02

Bachmann zeigte sich allerdings uneinsichtig und stellte in einem weiteren Tweet erneut eine vermeintliche Verbindung zwischen der Terrorwarnung und Flüchtlingen her:

16.01.01-bachmann05

In einem Punkt hat Lutz Bachmann zweifellos Recht – die Aufregung lohnt sich nicht, nicht wenn es um diese gezielten „Provokationen“ eines Rechtsauslegers geht.

 

Kein Silvester auf dem Roten Platz

In Moskau gehört ist es eine der großen Traditionen: in der Silvesternacht versammeln sich tausende Menschen auf dem Roten Platz, um zum Jahreswechsel den Kreml-Glocken zu lauschen. Das fällt dieses Jahr aus. Dafür gibt es  zwei Begründungen: eine offizielle und eine inoffizielle. 

15.12.28-platz

Ein Screenshot von Gazeta.ru

Jeder, der sich zu dem Platz begebe, um auf den Anbruch des neuen Jahres zu warten, werde von der Polizei fortgeschickt, wurde Moskaus Sicherheitschef Alexej Majorow auf der Rathaus-Website zitiert. Offizielle Begründung für die Schließung: Auf dem Platz findet ein Konzert statt, das vom staatlichen TV-Sender Kanal Eins aufgezeichnet wird und bei dem nur geladene Gäste zuhören dürfen. Doch hinter der Hand wird gemunkelt, dass vor allem die Angst vor Terroranschlägen der Grund für die Schließung des Roten Platzes ist. Hier ein Link zum Text über die Schließung des Roten Platzes

Russland als Ziel von Terroristen

Die Schließung des Roten Platzes komme „einer Schließung des Times Square in New York gleich“, sagte der frühere Abgeordnete Alexander Kliukin dem Radiosender Kommersant. Nach den islamistischen Anschlägen in Paris wurden auch in Russlands Hauptstadt die Sicherheitsvorkehrungen erhöht. Schon der Absturz einer russischen Passagiermaschine über Ägypten Ende Oktober, bei dem 224 Menschen ums Leben gekommen waren, hatte die Angst steigen lassen. Es sei kein Geheimnis, dass Moskau „ein Wunschziel für einen Anschlag internationaler Terroristen ist“, sagte Bürgermeister Sergej Sobjanin kürzlich. Hier der Link zur Berichterstattung über die Schließung

Hinweis auf Alternativen in Moskau

Im Internet wird darauf hingewiesen, dass es nicht nur den Roten Platz gebe, um das Neue Jahr zu begrüßen. Aufgelistet werden alle Alternativen, wo sich die Menschen treffen können. Sogar die Nachrichtenagentur TASS beteiligt sich an der Suche. Hier der Link zu einem Text mit den Alternativen

Es gelten die Buchstaben des Gesetzes

Politiker fordern, dass die Flüchtlinge unsere Werte übernehmen – das  ist weltfremd und nicht praktikabel.

15.09.04-flucht-budapest

Was sind die Grundwerte des Westens?

In diesen Tagen der Unsicherheit ist sehr viel von „unseren Werten“ die Rede. Politiker und Kommentatoren fordern uns auf, die Grundwerte des Westens gegen die Terroristen des Islamischen Staates zu verteidigen. Oder wir verlangen von den Flüchtlingen, die bei uns Schutz suchen, nicht nur unsere Sprache zu lernen, sondern auch unsere Werte anzunehmen. „Wer sich mit der deutschen Wertekultur nicht anfreunden kann, der kann auf Dauer nicht hier bleiben“, hat es der CDU-Fraktionschef Guido Wolf in den letzten Wochen in seinen Reden immer wieder markig formuliert.

Jeder kann  tun, was er will – oder?

Doch was steckt hinter dieser Forderung? Oder ist dieser Satz vielleicht nur ein Reflex angesichts der unerklärlichen Monstrosität des Terrors? Ein Reflex, der eine Selbstgewissheit vortäuscht, wo in unserer pluralistischen Gesellschaft im Grunde gar keine ist, denn was sind  „unsere Werte“? Diese nur scheinbar einfache Frage, in die Runde geworfen, provoziert in der Regel einen vielstimmigen Kanon an Meinungen und Ansichten. Deutlich wird: wir leben in einer Welt des Wertepluralismus und -relativismus. Längst kann sich jeder seinen eigenen Vorstellungskosmos zurechtzimmern – wir genießen in diesem Sinne die Errungenschaften der Aufklärung.

Selbst die zehn Gebote – über Jahrhunderte eine Art Leuchtturm der Orientierung – taugen in unserer modernen, von Gott eher abgewandten Zeit nicht einmal mehr im Ansatz als gesellschaftlicher Wertekanon. In jeder Vorabendserie geht es um Diebstahl, Lügen, Intrigen und Ehebruch. Allenfalls das fünfte Gebot – Du sollst nicht töten – scheint seine Allgemeingültigkeit noch nicht verloren zu haben. Aber auch hier gibt es Zweifel. Selbst im demokratischen Europa sind wir uns nicht wirklich einig darüber, welchen Wert ein Leben hat und wann es von Menschenhand beendet werden darf. In Ungarn wird laut über die Einführung der Todesstrafe nachgedacht.

Angst nach den Anschlägen

Die Anschläge von Paris und die seit Wochen um sich greifende Angst vor neuen Terrorattacken haben uns in Europa allerdings einige grundsätzliche, jedem ans Herz gewachsene Werte ins Gedächtnis gerufen, die wir  – siebzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges und 25 Jahre nach dem Fall der Mauer  –  vielleicht als allzu selbstverständlich hingenommen haben. Die Morde an 129 Menschen haben uns daran erinnert, dass wir ein selbstbestimmtes Leben in  Frieden und Sicherheit führen wollen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die Schlagworte der Französischen Revolution, schienen in unserer Zeit – mit einigen Abstrichen, etwa bei der Gleichheit von Mann und Frau – durchaus verwirklicht.

Aber müssen wir diese Werte den Flüchtlingen aus Syrien tatsächlich erst mühsam beibringen? Sind diese Menschen nicht aus ihrer Heimat geflüchtet, weil ihr Leben, ihre Freiheit und ihre Sicherheit  gefährdet waren? Vielleicht hilft es weiter, die ganze Diskussion etwas tiefer zu hängen, also nicht in  Überhöhung von irgendwelchen, nur schwer zu definierenden Werten zu reden, die wir in Deutschland alle zu teilen haben – und unter denen am Ende jeder etwas anderes versteht. Zudem ist es eine andere, zentrale Folge des aufklärerischen Relativismus, dass wir Menschen mit anderen Wertvorstellungen tolerieren können. Das erlaubt es uns, den Mitmenschen eine gewisse Gelassenheit entgegenzubringen. Weil aber diese unklaren Wertvorstellungen nicht zur Regelung des alltäglichen Zusammenlebens geeignet sind, haben wir uns auf eine andere, säkulare Kategorie verständigt: das Recht.

Von Muslimen und Moralisten

An diesem Punkt stellt sich die Ausgangfrage in einem neuen Licht. Es ist unnötig, uns in philosophische Höhen zu schrauben und von den hier ankommenden Flüchtlingen zu verlangen, sich an unsere Werte zu halten. Reicht nicht das in Deutschland geltende, sehr genau ausformulierte, für jeden nachzulesende Gesetz? Darin steht etwa: wir leben in einem von der Kirche abgetrennten Rechtsstaat, Männer und Frauen sind gleichberechtigt und Homosexualität ist eine anerkannte Lebensform. Wir können von den muslimischen Flüchtlingen nicht verlangen, dass sie sich von ihren Werten einfach verabschieden. Dass sie etwa den hohen Stellenwert von Familie zu Gunsten unserer Patchwork-Vorstellung fallen lassen. Oder dass sie klaglos unsere eher libertären Moralvorstellungen übernehmen. Sittenwächter haben in einer freien Gesellschaft nichts verloren.

Verlangen können wir aber, dass die Hilfesuchenden sich an das hier geltende Recht und die Gesetze halten. Tun sie das nicht, haben sie mit den entsprechenden Konsequenzen zu rechnen. Darüber zu urteilen ist dann aber Sache unabhängiger Gerichte und nicht der Moralpolizei.

Darf die Bundeswehr im Inneren helfen?

In der Flüchtlingsdiskussion, aber auch im Anti-Terror-Kampf hört man die Forderung, die Bundeswehr solle zur Verstärkung im Innern eingesetzt werden. Doch die rechtlichen Hürden des Grundgesetzes dafür sind sehr hoch. Im Folgenden eine sehr gute Zusammenstellung von tagesschau.de

15.11.20-Bundeswehr-Hochwasser

Darf die Bundeswehr im Innern eingesetzt werden?

Die Bilder der Sturmflut in Hamburg 1962 haben viele noch gut in Erinnerung, nicht nur wegen Helmut Schmidt. Damals leistete auch die Bundeswehr Katastrophenhilfe. Ohne ihre Leistung in einer Notsituation schmälern zu wollen – eine richtige Rechtsgrundlage gab es dafür nicht. Die Aufgaben von Militär und Polizei sind in Deutschland nach den historischen Erfahrungen der NS-Zeit strikt getrennt. Das gilt im Prinzip bis heute. Die Bundeswehr ist grundsätzlich für die Verteidigung des Landes nach außen da, die Polizei ist fürs Inland zuständig.
In Artikel 87a Absatz 2 Grundgesetz heißt es: „Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt.“

In den heiß umstrittenen „Notstandsgesetzen“ 1968 wurden zwei eng begrenzte Möglichkeiten für den Einsatz der Bundeswehr im Innern ausdrücklich ins Grundgesetz aufgenommen:

• Die „Katastrophenhilfe“ (Artikel 35 Absatz 2 und 3 Grundgesetz)
• Der sogenannte „Innere Notstand“ (Artikel 87a Absatz 4 Grundgesetz)

Seit den islamistischen Anschlägen vom 11. September 2001 stehen diese Möglichkeiten wieder verstärkt in der Diskussion. Neue Formen von Angriffen stellen auch das Recht vor neue Fragen. Als Leitlinie ist wichtig: Der Einsatz der Bundeswehr im Innern ist an sehr strenge Voraussetzungen geknüpft. Man darf das Militär nicht „einfach so“ zur Unterstützung der Polizei heranziehen, wenn die Kapazitäten nicht ausreichen.

Was bedeutet die Katastrophenhilfe?

Die Bundeswehr kann in Katastrophenfällen als eine Art „Hilfspolizei“ tätig werden und sich derselben Mittel bedienen wie die Polizeibehörden. Voraussetzung ist:

• Entweder eine „Naturkatastrophe“ (etwa das Elbhochwasser 2002)
• Oder ein „besonders schwerer Unglücksfall“

Damit scheiden Einsätze der Bundeswehr mit echten polizeilichen Befugnissen in der Flüchtlingskrise aus, weil diese Voraussetzungen nicht vorliegen. Ein Einsatz der Bundeswehr zur Grenzsicherung im Rahmen der Flüchtlingskrise oder der allgemeinen Gefährdung durch Terrorismus wäre also nicht vom Grundgesetz gedeckt.

Bei einem möglichen Terroranschlag in Deutschland kommt die Fallgruppe „besonders schwerer Unglücksfall“ in Betracht. Für diesen Begriff hat das Bundesverfassungsgericht 2012 die Hürden ziemlich hoch gelegt. Es müsse sich um eine „ungewöhnliche Ausnahmesituation katastrophischen Ausmaßes“ handeln. Ein konkretes Anwendungsbeispiel dazu gibt es in Deutschland – zum Glück – bislang nicht. Eine Lage wie am 11. September 2001 würde wohl darunter fallen. Es spricht auch einiges dafür, dass man eine vergleichbare Lage wie in Paris am 13. November als eine solche Ausnahmesituation ansehen und einen Bundeswehreinsatz dann für zulässig halten kann. Immerhin ging es um zahlreiche Anschläge an unterschiedlichen Orten mit mehr als 100 Toten.
Für eine Situation ohne konkreten Anschlag ergibt sich aber auch: Man dürfte die Bundeswehr nicht einsetzen, nur weil die Polizei vielleicht nicht genug Einsatzkräfte hat, etwa zum Schutz von Großveranstaltungen oder bestimmten Gebäuden.

Wenn die Voraussetzungen für die „Katastrophenhilfe“ vorliegen, müsste die gesamte Bundesregierung einen Bundeswehreinsatz beschließen. Eine Entscheidung des Verteidigungsministers (bzw. der -ministerin) würde nicht ausreichen.

Dürfte die Bundeswehr bei der „Katastrophenhilfe“ auch militärische Mittel einsetzen?

Das war über Jahrzehnte sehr umstritten. Dürfte die Bundeswehr bei einem Einsatz im Innern nur als „Hilfspolizei“ agieren, also die klassischen polizeilichen Mittel einsetzen? Oder dürfte sie auch spezifische militärische Mittel einsetzen, also Panzer, Kampfjets und ähnliches Gerät? Diese Frage hat das Bundesverfassungsgericht gleich zweimal beschäftigt.

2006 gab es das viel beachtete Urteil zum „Luftsicherheitsgesetz“. (Hier der Link zur Berichterstattung)  Im Gesetz war die Befugnis zum Abschuss von Passagiermaschinen geregelt, die von Terroristen für einen Anschlag missbraucht werden. Ausgangsbeispiel war der 11. September 2001. Karlsruhe sagte erstens:

Die Tötung Unbeteiligter sei in einem solchen Fall ein Verstoß gegen die Menschenwürde. Ein vielschichtiges Thema, das an dieser Stelle nicht vertieft werden kann. Zweitens urteilte das Gericht: Der Einsatz spezifischer militärischer Mittel sei der Bundeswehr im Innern ohnehin nicht erlaubt. Erlaubt sei also nur der „Hilfspolizist“.

Der Abschuss eines Flugzeuges mit unbeteiligten Passagieren, das von Terroristen als „Waffe“ missbraucht wird, ist bis heute nicht erlaubt, weil es um die Menschenwürde geht. Aber: Bei der Frage nach dem Einsatz militärischer Mittel in besonders schweren Unglücksfällen gab es 2012 eine interessante Wende. (Hier der Link zur Berichterstattung) Die Länder Bayern und Hessen hatten ebenfalls gegen das Luftsicherheitsgesetz geklagt, sodass das Thema in Karlsruhe erneut auf die Tagesordnung kam. Das Plenum des Gerichts aus allen 16 Richterinnen und Richtern entschied: Das Grundgesetz verbiete den Einsatz solcher Mittel nicht generell, hieß es. Karlsruhe öffnete dieses Fenster damit für den absoluten Krisenfall, betont aber ausführlich die sehr engen Grenzen eines solchen Einsatzes.

Was bedeutet der „innere Notstand“ (also die zweite Möglichkeit eines Bundeswehreinsatzes im Innern)?

Ein Militäreinsatz ist auch im Fall des sogenannten „inneren Notstandes“ möglich, eine extreme Ausnahmesituation. Die Voraussetzungen für einen solchen Einsatz sind extrem streng. Es muss unter anderem eine „Gefahr für die freiheitlich demokratische Grundordnung“ vorliegen, und die Polizeikräfte von Bund und Ländern dürfen nicht ausreichen. Dann darf die Bundeswehr zum Schutz ziviler Objekte und zur „Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer“ eingesetzt werden. Praktisch relevanter in der aktuellen Diskussion dürfte aber die „Katastrophenhilfe“ sein, deswegen soll der „innere Notstand“ hier nicht weiter vertieft werden.
Kann Bundesverteidigungsministerin von der Leyen die Bundeswehr in der Flüchtlingskrise zur Unterstützung einsetzen?
Solche Pläne gingen vor einiger Zeit durch die Medien. Die oben beschriebenen Einsätze der Katastrophenhilfe taugen in der Flüchtlingskrise natürlich nicht als Rechtsgrundlage. Es gibt aber den allgemeinen Grundsatz, dass sich staatliche Stellen von Bund und Ländern untereinander „Amtshilfe“ leisten (Art. 35 Absatz 1 Grundgesetz). In diesem Rahmen könnte auch die Bundeswehr in bestimmten Grenzen eingesetzt werden. Es darf dabei aber nur um technische Unterstützung gehen, zum Beispiel um das Aufbauen von Zelten für Flüchtlinge oder ähnliche Dinge. Polizeiliche Aufgaben dürfte die Bundeswehr aber in der derzeitigen Lage nicht übernehmen, zum Beispiel Menschen kontrollieren oder die Grenze bewachen.

Hier der Link zur Tagesschau